Ausgewählter Beitrag
Der schwarze Zwilling
Es ist ziemlich genau drei Jahre her - einige Monate nach dem Suizid meines Vaters habe ich sie das letzte Mal getroffen. Warum ich immer noch betonen muss, dass es ein Suizid war, erschließt sich mir noch nicht in Gänze. Es ist, als würde ich der Welt pedantisch mitteilen wollen, dass er nicht einfach so gestorben ist, wie Menschen das nun mal tun, sondern sogar das Leben und den Tod selbst manipulieren musste, wie er alles manipuliert hat, dessen er habhaft werden konnte. Ich konnte ihm nicht viel verweigern, aber den Umstand, einfach gestorben zu sein, den wird er nicht für sich beanspruchen können. Ich habe sie also getroffen und wie jedes Mal zog sie mich sofort in ihren Bann. Meine Sprache wurde klarer, offen für das Unaussprechliche, das ich niemandem anvertraue, das nur als Nicht-Echo in dem schwarzen Loch verschwindet, das ihre Seele bildet. Und ich genieße es. Wie jedes Mal. Ich habe in dem Moment aber auch erkannt, wie gefährlich sie für meine wackelige Stabilität sein würde, also habe ich mich verweigert. Nicht nur den Anrufen, den Spontanbesuchen, nein, auch dem puren Denken an ihre Existenz. Nachdem ich letzte Woche davon berichtet habe, dass ich sie getroffen habe, kam keine Reaktion. Man sollte meinen, dass Menschen, mit denen man schon so lange sein Leben teilt, ein natürliches Interesse an mir hätten, Fragen stellen oder sich besorgt erkundigen würden, was das mit mir gemacht hat, aber ich habe nach ein paar Tagen die leisen Gesprächsversuche eingestellt, die resonanzlos im Nichts verhallten. Wir sind verabredet. Heute. Und ich weiß, dass ich gleich wechseln werde. Sie ist ein gefährlicher Mensch für mich, sie zeigt mir, was ich haben könnte, wenn ich mich anders entscheiden würde. Sie nimmt sich. Alles. Männer, Frauen, Sex, Geld, Gelegenheiten, Vorteile. Und sie hat kein Gewissen. Nie gehabt. Sie lügt, sie betrügt, sie verrät, sie tut im Grunde das, was alle Menschen tun, aber ohne das zerschlissene Deckmäntelchen des vorgetäuschten Anstands, das die anderen über ihr eigenes Verhalten breiten. Sie manipuliert alles und jeden - auch mich, natürlich. Und sie tut es in einer an Anstößigkeit grenzenden Wonne, so dass ich ihr mit jeder Minute Zusammensein mehr verfalle als gut für mich und mein mühsam erlerntes Gutmenschentum ist. Ich genieße ihre rohe und obszöne Echtheit. Wie vulgär sie die Dinge beim Namen nennt, wie sie die Maske von restlos allem reißt, bis ich nackt vor ihr stehe und meine Wahrheiten aussprechen darf. In der Gewissheit, sie nicht schockieren zu können, einfach sein zu dürfen. Es ist bestimmt kein guter Zeitpunkt. Das ist es nie. Ich merke, wie mein Leben gerade kippt. Die letzten Jahre haben aufgezehrt, was mich voller Hoffnung durch die Welt getragen hat. Wir werden sehen, was sie mir geben kann.