Ausgewählter Beitrag
Etwas fehlte
noch. Ich konnte es nicht greifen, aber das Puzzle war noch nicht fertig.
Es
klaffte eine Lücke mitten im Bild.
Und als ich mit den Kleinen auf dem Weg zum sehr großen Kind im Auto saß und nach hunderten von Kilometern den charakteristischen Berg hinauffuhr, hinter dem sich die Abfahrt zu dem Heimatort meiner Jugend befand, traf ich eine Entscheidung.
Wie unendlich vertraut
die Straßen waren, die Gebäude, alles. Mein Spiegel auf dem Beifahrersitz fragte
besorgt, ob alles in Ordnung sei, kaum dass wir den ersten Ort durchquerten.
Ich antwortete nicht. Die kurvige Strecke durch die Weinberge, so viele prägnante
Orte, so viele Erinnerungen, die mich überschwemmten, ich konnte einfach nichts
sagen. Als wir auf die Straße fuhren, die direkt zu meinem Elternhaus führen
würde, schnürte sich meine Kehle zu. Ich schaffe das nicht!, hämmerte es in meinem
Kopf. Weiter! skandierte es synchron.
Bauch vor Kopf, immer. Aber da war nur
noch ein Klumpen aus Angst und Panik und dem unausweichlichen Drang, etwas zu
beenden, das ich schon zu lange vor mir hergeschoben habe.
Vor 15 Jahren war ich das letzte Mal hier. 15 Jahre. Es war so viel passiert.
Ich bog in die Auffahrt ein und hielt direkt vor dem Haus an. Musterte die teuren Wagen, die davorstanden. Ich wusste, dass es an eine Familie verkauft wurde, die eine große Firma besitzt. Und dass sie viel verändern wollten, als sie es kauften.
Haben sie
nicht.
Das schmiedeeiserne verschnörkelte Tor, das ich in mühevoller Kleinarbeit
mit meinem Vater zusammengeschweißt hatte, hing immer noch an der einen Stelle
schief, so dass es nicht von den goldenen Römerköpfen gehalten werden konnte,
wenn es offen stand. Die Mauer zum Wohnwagenstellplatz hin, die ich gemauert hatte,
war schmuddelig und ungepflegt und bräuchte dringend einen Kärcher und danach
einen neuen Anstrich. Die Lampen auf den Mauersockeln waren mit Moos bedeckt
und unpoliert. Die Büsche schlecht geschnitten. Das Dach müsste vielleicht mal
neu gedeckt werden. Die große Weide, in der ich so viele Stunden als Kind
verbrachte, war weg und ist dem hässlichen Riesenwacholder gewichen, auf den
ich allergisch reagierte.
„Mama?“
Ich zuckte zusammen. Wir saßen immer noch im Auto.
„Wo sind wir?“
- Das ist mein Elternhaus. Hier habe ich gewohnt, als ich so alt war wie ihr beide jetzt.
Wir stiegen aus. Halb hoffte ich, es würde jemand aus dem Haus treten, dem ich mich vorstellen könnte, halb fürchtete ich es. Es geschah nichts. Und so stand ich da und wusste nicht so recht, wohin mit mir. Das epische Erlebnis blieb aus. Sollte ich mich geirrt haben? War es gar nicht wichtig, dass ich hierher kam?
„Das Haus ist superhässlich.“
Ich sah mein Kind an. Und dann das Haus. Ich hatte nie auch nur irgendetwas anderes als Bewunderung für dieses Gebäude gehört.
Die Kriegerin sah sich skeptisch um. „Und was hast du hier so gemacht?“
- Meistens bin ich weggelaufen. Hinter dem Haus beginnen die Felder, der Bach und wenn man einige Kilometer querfeldein gelaufen ist, ist da eine gigantische…
„Zeig es uns!“
Der Butz
lachte und spurtete los. Ich setzte mich in Bewegung und fühlte mit jedem
Schritt, wie sich die Vergangenheit mit der Gegenwart synchronisierte.
Hier.
Hier musste ich hin.
Ich lief schneller. Die beiden Kinder rannten den Weg
neben dem Bach entlang Richtung Felder. Kaum dass wir die Häusergrenze hinter
uns gelassen hatten, umfing mich die ohrenbetäubende Stille, wegen der ich
früher immer hierhin flüchtete. Plötzlich war ich 8, ich war 12, ich war 15, ich
war 45, es war Morgen, es war Tag, es war Mitternacht, es war jetzt und vor 30
Jahren, als ich erschöpft vom Laufen im Sommer unter klarem Sternenhimmel zu
Boden sank, in die Unendlichkeit des Weltalls blickte und erkannte, wie klein
und bedeutungslos wir alle im Vergleich zum großen Ganzen waren. Und trotzdem ein Teil davon. Ich spürte, wie mich der Trost durchströmte, die Kraft,
die ich früher an genau diesem Ort gesammelt hatte, um mich dem nächsten Tag zu
stellen. Um nicht aufzugeben, um nicht wahnsinnig zu werden.
Hier war ich richtig. Das Haus war gar nicht der Ort, an den ich zurückkehren musste. Wie blind ich war. Hier. Hier waren viel wichtigere Weichen für mein Leben gestellt worden.
Ich zeigte den Kindern den geheimen Übergang über den Bach, der hinter dichtem Bewuchs verborgen lag. Wo ich unter der Brücke in die Maueraussparung gekrochen war, um mich zu verstecken, wo ich geschlafen habe, wenn mich keiner suchte. Wo ich glücklich war.
Wo ich glücklich war…
Diese Worte brachten alles in mir zum Klingen. Hier. Hier war ich früher glücklich. Hier war Hoffnung. Meine Hoffnung. Hier war das Herz grün und voller Zuversicht für meine Zukunft.
Hier war ich frei.
Als wir Stunden
später fuhren, wusste ich, dass ich nicht mehr zurückkommen würde.
Das letzte
Puzzleteil liegt an seinem Platz.
Kati 10.12.2023, 06.00
mutige Kati
vom 12.12.2023, 21.50