Ich sehe nicht, dass es sich rentiert, ein aufrechtes Leben zu leben. Ich sehe die Dinge, Sozialleistungen, Geld, Spenden, Mitleid, Zuwendung, Geschenke, die Menschen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen ergaunern und wie sie jenseits jeder Moral und jenseits des theoretisch vorgegebenen zivilisatorischen Konsens von Ethik und Sozialverträglichkeit nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind.
Und es ist nicht einmal, dass mich das überraschen würde. Oder mich in seinem Ausmaß erschreckte.
Ich bin auch heute noch von Menschen umgeben, die so nah am Bodensatz der Gesellschaft überleben müssen, dass sie natürlich andere Entscheidungen treffen als der Großteil der Bevölkerung treffen müsste. Ich kenne Menschen, die klauen, die sich aus Not prostituieren, den Staat bescheißen, die ihre Kinder oder Partnermenschen schlagen, sie anschreien, misshandeln, die betrügen, und lügen, wenn sie den Mund aufmachen. Eine meiner Alltagsaufgaben ist es, diesen Menschen genau dann eine Hand zu reichen, wenn sie mir im selben Atemzug nicht die Handtasche klauen und ich kann das gut.
Ich verurteile das moralisch nicht.
Ich werte nicht. Ich höre und ich sehe und ich kenne den Unterschied zwischen Mensch und Verhalten.
Ich kenne den Überlebensmodus.
So anders und doch so gleich.
Wenn du einen Großteil deines Lebens auf deine Amygdala heruntergebrochen wirst, denkst du nicht mehr nach.
Du tust Dinge.
Und ein Wertesystem ist für die moralisch privilegierten.
Moralisches Privileg entsteht aus Sicherheit.
Und genau hier ist der Punkt, der mich desillusioniert. Wenn sogar die moralisch Privilegierten entscheiden, ihren Neocortex nur dafür zu nutzen, wie sie ihr Leben maximal komfortabel gestalten können, wie sie andere ausnutzen, um Geld erleichtern, wie sie auf Mitleid spielen und persönliche Vorteile aus einem wackeligen Lügengebilde erfahren, wo genau ist der Sinn, dass es einen anscheinend nur verschwindend geringen Teil Menschen gibt, die sich bemühen, genauso nicht zu sein?
Do what is right. Not what is easy.
Es scheint mir immer mehr ein Spruch aus einer Fantasiewelt zu sein, die ich mir zurechtgezimmert habe, weil ich daran glauben wollte, dass es tatsächlich einen nicht unerheblichen Bruchteil an Menschen gibt, die nach dieser Maxime ihr Leben gestalten wollen. Nicht perfekt, aber bemüht. Wenn ich mich in nächster Umgebung umblicke, brauche ich nicht einmal alle Finger einer Hand zum zählen. Und wer weiß schon, welche Leichen im Keller diese Menschen verbergen.
Vertraue niemandem. Alle Menschen lügen. Immer.
Soll ich also in meinem Leben wirklich so weit gekommen sein, um letzten Endes zu erkennen, dass wir als Menschheit unterm Strich genau so sind, wie meine Herkunftsfamilie immer prophezeit hat?
Korrupt, moralisch verkommen und nur auf den eigenen Vorteil bedacht?
Und warum sollte ich dann an mein eigenes Verhalten andere Maßstäbe anlegen, wenn es mir doch hierbei nur zum Nachteil gereicht?
Ich kann die Zwischentöne gerade nicht mehr sehen, während alles, was nicht weiß ist, ins Schwarz rutscht.
So unendlich traurig über Erkenntnisse, die schon immer da waren.
Liebe Kati,
ich lese und spüre beim Lesen Einsamkeit. Es ist ein anstrengendes Leben nach diesen hohen eigenen Werten zu streben. Und es wäre manchmal schöner, hätte man mehr Lichter dabei um sich herum. Weil es zeigen würde, und zwar unmittelbar, das alles irgendwie doch einen Sinn machen würde. Ich glaube, beim Leben nach den eigenen Werten geht immer auch um ein Ringen um Wege. Wege die nicht weh tun bzw. auf denen man sich beim Gehen nicht selbst auch noch (mehr) weh tut, als es das ohnehin weh schon tut. Einfache Wege tun der Seele mehr weh als die richtigen.
Ich wünsche dir einen schönen ersten Advent und sende einen herzlichen Gruß,
deine Katrin
vom 03.12.2023, 16.20