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Die Vorzeichen [Teil I]

Ich bin ein sehr vernunftbegabter Mensch. Nicht ohne Drama, aber doch durchaus vernunftbegabt. Ich weiß, dass es einen Namen für das Universum gibt, in das ich eingetreten bin, wenn ich mit meiner Großmutter mütterlicherseits zu tun hatte und der lautet: Aberglaube.

Nun verhält es sich mit Aberglauben aber so, dass er sich jedem logischen Denken erstmal verweigert. Programmierung von Kindern tut dann noch das Ihre dazu. Viele von uns kennen in der „Light“-Version auch als Erwachsene noch das schlechte Gewissen, wenn uns etwas Schlechtes widerfährt, weil wir als Kinder gelernt haben, dass „Der liebe Gott die kleinen Sünden sofort bestraft“ oder dass „Karma regelt“.

In einer pathologisch mystischen Welt aufzuwachsen, in der grundsätzlich alles ein Zeichen ist, ist maximal schwierig. Der Rabe da oben auf dem Dach? Jemand stirbt. Die schwarze Katze? Tod und Pech. Der Ruf eines Kauzes? Stirb. Eine Frau wünscht dir Glück? Schnell ins Haus verkrümeln. Über einen Kreuzschatten gehen? Um Himmels willen, leg dich gleich ins Grab. Bestimmte Schmetterlinge oder Spinnen? Dito. Mit dem linken Fuß aufgestanden? Nimm dir nichts vor, halt dich von deinem Partner fern. Vollmondtage? Jetzt wird's richtig wild.

Und da sind wir noch gar nicht bei abgebissenen Mausteilen und Eingeweiden zur Behandlung von Krankheiten.

Ich wurde mit einem sehr großen Blutschwamm geboren, der - Überraschung - natürlich ein Zeichen des Teufels war. Ich habe Augen, die in der Sonne fast orange leuchten - auch nicht gut.
Als ich als Kind mal eine Warze am Fuß hatte, die jeder Hautarzt gut hätte behandeln können? Kati wurde bei Vollmond in den Wald geschleppt, mit Tau gereinigt und in mit gegen die Strömung geschöpftem Flusswasser gewaschen, hat an einem Baum geleckt und wurde mit frischem Tierblut eingerieben. Danach wurde die Warze regelmäßig „besprochen“. Es hat sie leider nur nicht interessiert. Das war natürlich meine Schuld, weil mir der Glaube fehlte, also auch dafür wurde ich dann logischerweise mit dem Weiterbestehen der Warze bestraft.

Meine Hautkrankheit wurde mit Maschinenöl behandelt. Das hat nämlich dem Onkel einer verstorbenen Witwe, die damals einem Schäfer begegnet ist und danach ein rothaariges Kind bekommen hat, super geholfen.
Ausschlag bei Viruskrankheiten, die ich ja ohnehin alle ungeimpft durchmachen musste, weil das das Immunsystem stärkt? Wir schneiden einfach die Haut ein und werfen das Kind in kaltes Meerwasser, damit das Salz alles Teuflische wegbrennt.
Fieber? Husten? Lungenentzündung? Eisbaden. Bei Vollmond.

Bei jedem Besuch wurden meine Handlinien ausgiebig gemustert, mit viel Gemurmel und unheilschwangerem Klagen ausgelesen und geweint, warum ich so ein Unglückskind sei.
Das macht was mit Kindern. Bei allem, was mir später widerfahren ist, war mir klar, dass ich für irgendetwas bestraft wurde. Also war es ja auch nicht falsch. Ich wusste zwar nicht, wofür ich bestraft werde, aber ich würde es schon verdient haben. Die grundlegenden Prinzipien von Karma und Zeichen und Vorahnungen und Prophezeiungen wurden mir schließlich von Geburt an nachhaltig eingetrichtert.

Ich habe sehr viele sehr liebevolle Erinnerungen an meine Großmutter und ich bin stolz auf meine Herkunft. Auf diesen Teil hätte ich trotzdem gerne verzichtet. Als sie früh an Krebs starb, war ein Teil von mir froh, dass ich keine Angst mehr vor ihr würde haben müssen.

Je älter ich wurde, desto mehr stellte ich in Frage. Je mehr ich sah, wahrnahm, wie ungerecht und unfair das Leben nun mal ist, desto mehr zweifelte ich. Warum sterben Kinder im Mutterleib? Warum erkranken Babys? Warum müssen unschuldige Kinder leiden? Wenn das einen „Grund“ haben sollte, würde er sich mir nie erschließen. Wenn eine höhere Instanz aktiv dafür sorgte, dass jeder kleine und noch so menschliche Fehler bestraft würde, wäre das keine Instanz, der ich mich freiwillig unterstellen würde.

Noch später schaffte ich einen weiteren gedanklichen Schritt. Wenn doch alles bestraft würde - warum kamen dann oft die grausamsten Menschen mit ihren Taten davon? Warum wurden Verbrecher so alt? Warum blieben Menschen glücklich und gesund, die andere Menschen ins Verderben gestürzt hatten?
Warum werde ich mit einem Unfall dafür bestraft, dass ich vom Kuchen genascht habe und Menschen, die anderen Menschen absichtlich wehtun, leben unbehelligt ihr Leben weiter?

Es sollte noch sehr lange dauern, bis ich das sortiert bekommen würde.
In der Zwischenzeit hatte ich Geld im Portemonnaie, falls der Kuckuck rufen sollte, machte Umwege um Leitern, schwarze Katzen, Spiegel und Eulen, machte Dinge lieber mit linken Händen oder rechten Füßen, am liebsten bei Vollmond oder auf gar keinen Fall währenddessen, freute mich über jede Bachstelze, sprach nicht mit ihrem Namen von Verstorbenen, warf Salz über Schultern, spuckte auf Dinge, hielt mich von Blumen auf Friedhöfen fern, legte niemals eine offene Handtasche auf den Fußboden, sah mir grundsätzlich keine Handflächen von Menschen an und klopfte viel auf Holz.

Das Leben im Aberglauben, wenn er so sehr Obsession ist wie das bei meiner Großmutter und ihrer Familie der Fall war, ist kein sehr Entspanntes. Es ähnelt einem Spießrutenlaufen um jedes mögliche Zeichen, um bloß nichts zu übersehen. Weder im Guten noch im Schlechten.

Der kupferne Glückspfennig auf dem Weg, das Hufeisen, das Kleeblatt, das man womöglich übersehen würde, zerbrochene Dinge bitte nur aus Keramik, auf gar keinen Fall aus Glas, sonst wird aus Glück plötzlich Unglück oder im schlimmsten Fall des Spiegels zerreißt es auch noch über Jahre deine Seele in so viele Abbilder wie Scherben - es ist sehr anstrengend, die Omen alle zu sehen und dabei das Schicksal nicht zu verstimmen.

Während ich dies schreibe, überlegt ein Teil von mir, wie wahnsinnig oder zutreffend es ist, diesen Text an einem 13. zu veröffentlichen.

Kati 13.04.2023, 10.46

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Kommentare zu diesem Beitrag

5. von ID1908

Wtf ich fühle mit Dir.
Wie anstrengend war das Leben für Dich, bloß keine Vorzeichen zu übersehen.


vom 13.04.2023, 20.05
4. von Lydia Dackeldompteuse

Danke für den Einblick und ich bin gespannt darauf, was du noch zu berichten hast.

vom 13.04.2023, 18.29
3. von Vorsänger

Servus!
Du bist durch den Feuerbach (Ludwig) gegangen (sagt der Religionspädagoge in mir) damit hättest du die besten Voraussetzungen für ein Theologiestudium wenn du darauf Lust hast. :-)

Danke für deine Offenheit und weiterhin alles Gute auf deinem Weg.



vom 13.04.2023, 17.52
2. von Mandy

Ich empfinde tiefes Mitgefühl für das Kind, das scheinbar nie einfach nur Kind sein konnte. Jede Handlung, Aktion, Bewegung darauf zu kontrollieren ob sie "Schaden" anrichtet. Das ist so unfassbar traurig und leider auch gruselig (bitte verzeih, ich bin mit Worten nicht so gut). Danke für den Einblick in diesen Teil Deines Lebens. Alles Gute für Dich.

vom 13.04.2023, 11.12
1. von Steffi

Danke für diesen Einblick in eine mir völlig unbekannte Welt.

vom 13.04.2023, 10.55


Das Tragische an diesem Leben ist nur, dass es auf einer wahren Geschichte beruht.

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