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Lieber Opa.

Dein 14. Todestag ist schon über einen Monat her und ich habe dieses Jahr tatsächlich nur ein paar Tage vorher daran gedacht und am Tag selber nicht. Ich nehme an, dass sich die Trauer um dich langsam verändert und das ist okay so.
Die Kirsche blühte dieses Jahr früher als sonst. Ich werde den Baum fällen, seine Zeit ist um. Auch damit habe ich mich mehrere Jahre getragen, aber es ist wie es ist. Wir haben eine Pflaume, die ich gepflanzt habe, als wir die Zusatzkinder aufnahmen und sie trägt jedes Jahr reichlich Früchte. Und ich habe mir Rosen gekauft. Nur rosafarbene. Ich muss immer ein wenig lächeln, wenn ich an ihnen vorbeigehe und mir vorstelle, wie sehr du darüber schimpfen würdest.

Dad ist tot. Das weißt du natürlich, aber ich habe dir bisher nicht darüber geschrieben. Er hat sich selbst getötet. Ich erinnere mich nicht, dass wir je darüber gesprochen haben, wie du zu Suizid stehst. Ich unterstütze das Recht eines jeden Menschen, sein Leben zu beenden, aber ich wünschte, es gäbe schon die Umsetzung dieses Rechts durch Medikamente, die einen würdevollen Tod ermöglichen. Er musste sich selber etwas zusammenmischen und ich glaube, dass ich zumindest dazu deine Meinung kenne. Das letzte dreiviertel Jahr war hart für mich. Es wird langsam. Ziemlich langsam.

Vorgestern hat mein großer Sohn seinen ersten Anzug in Auftrag gegeben. Und ich musste an dich denken. Den ganzen Tag. „Kind, ein Anzug muss vor allem eines tun: Passen.“
Du hast immer gesagt, dass man sich in etwas, in dem man sich nicht wohlfühlt, automatisch benimmt wie ein Clown und ich versuche, das an die Kinder weiterzugeben.

Und als ich das Foto von ihm gesehen habe, wie er da stand, so hochgewachsen und schlank und schön, in Anzug und Weste, da hat mir jemand gefehlt, dem ich das Foto schicken kann. 
Du. 
Es gibt zwei Menschen, die das Foto gesehen haben, aber das war nicht dasselbe. Ich hätte es gerne dir geschickt.
Hätte dir gerne gezeigt, dass dieses Kind, das dir so ähnlich ist, langsam zum Mann übergeht. Zu einem guten, ehrlichen und anständigen Mann. Ich weiß, dass du wohlwollend genickt hättest, ich weiß es. 
Ich trage dich jeden Tag so allgegenwärtig in mir, in meinem Leben, in meinem Lieben, in meinem Handeln, dass es eigentlich egal ist, dass du tot bist, aber manchmal tut es doch noch ziemlich weh.

Lieb dich. Danke, dass du in meiner Kindheit mein Licht warst. Ich wünschte, ich hätte das früh genug in seinem ganzen Ausmaß erkannt, um es dir persönlich mal gesagt haben zu können.

Kati 26.05.2023, 12.10

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Das Tragische an diesem Leben ist nur, dass es auf einer wahren Geschichte beruht.


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