Ausgewählter Beitrag

Lieber Schwiegervater,

als wir uns das erste Mal trafen, war ich 18 Jahre alt und hatte gerade heimlich deinen 26jährigen Sohn geheiratet. Ich war ein Akt des Aufbegehrens gegen dich, das habe ich später verstanden.
Und was für einer.
Wir fochten von Beginn an auf einer ganz eigenen Ebene. Ich stand für alles, was deine gutbürgerlichen Pläne für deinen Sohn vereiteln würde und das hast du mich deutlich spüren lassen. Einer deiner ersten Sätze zu mir lautete: „Dein Platz ist in der Küche.“. Und ich sagte: „Nein.“ Und du hast mich fassungslos angestarrt. Weil das etwas war, was nicht sein durfte in deiner Welt.
Und ich hielt deinem Blick stand.
Immer.
Trotzig, provozierend, arrogant und voller Leidenschaft.
Jeden deiner Hiebe habe ich pariert und im Laufe der Jahre wich unsere Härte gegeneinander einer leisen Form von gegenseitigem Respekt. Ob wir Augenhöhe erreicht haben, wage ich zu bezweifeln. Aber ich habe mich bemüht.

Als ich deinen Sohn endgültig verließ, standen wir nachts in der Dunkelheit und schwiegen gemeinsam.
Du wandtest dich zu mir um, hieltst die Arme auf und fragtest: „Ein letzter Tanz?“.
Als unsere Körper sich berührten, ahnte ich für einen winzigen Moment, wie sich erwachsene Männlichkeit anfühlen würde. Selbstsicherheit, Führung, Wissen.
Die Luft brannte.
Es war, als würde sich der jahrelange Kampf zwischen uns in diesem einzigen Moment entladen. Wir tanzten auf der schmalen Schneide zwischen unseren Sehnsüchten und unseren Verpflichtungen.
Du warst es, der nach einer gefühlten Ewigkeit zurücktrat und Lebewohl sagte.

Nun geht deine Reise weiter.

Heb mir einen Tanz auf, wenn wir uns wiedersehen.

Kati 01.08.2021, 22.00

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Das Tragische an diesem Leben ist nur, dass es auf einer wahren Geschichte beruht.

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