Ausgewählter Beitrag

Von der Angst

Die Angst war lange Jahre die treueste Begleiterin des Kobolds.
Ich schätze, dass er heute darum auch so mutig ist, denn nur wer die Angst kennt, findet den Mut.

Sein schlimmster Feind war ein gleichaltriger Junge, mit dem er eingeschult wurde und von dem er tagein tagaus gepiesackt wurde. Erst war es nur ärgern, dann mobben, dann kam körperliche Gewalt dazu. Und ein Kobold kam jeden Tag weinend aus der Schule und schwor mir, dort nie wieder hinzugehen.
Ich versuchte alles. Wir haben viel über Notwehr gesprochen, aber allein die Vorstellung, jemandem weh zu tun, brach so verzweifelt über dem kleinen Jungen zusammen, dass er nur umso bitterlicher weinte. Einfach nur aufhören sollte es.

Es hörte nicht auf.

Gespräche mit Lehrern, die nichts gesehen hatten, mit Pausenaufsichten, die Dinge sagten wie „Jungs halt“ oder „Dann soll er sich wehren!“ und es änderte nichts.
Es wurde schlimmer und die Angst wurde größer.
Ich brachte den Kobold jeden Tag zur Schule und natürlich passierten diese Dinge nicht, wenn ich dort stand. Also legte ich mich auf die Lauer. Ungesehen, von beiden. Und es dauerte nicht lange. Ein Erstklässler wie ein Bulldozer - doppelt so breit und schwer wie der Kobold - und der seine Masse, seine Kraft und all seine Wut gegen andere Kinder richtete.

Er hielt den Kobold fest, schlug, lachte. Der Kobold weinte und wimmerte und schrie um Hilfe. Und ich sah rot. Ich stürmte auf den Schulhof, an Lehrern vorbei, die Schülermenge teilte sich vor mir, wie ich wutentbrannt auf diesen Jungen zustampfte, bereit, mein Kind zu verteidigen. Ich hörte das Rufen hinter mir kaum, nur noch das Rauschen des Blutes in meinen Ohren.
Er stand mit dem Rücken zu mir, drehte sich irgendwann um, während ich noch auf ihn zukam und ließ den Kobold los. Ich hob mein Kind auf den Arm und stellte mich vor ihn. Meine Stimme war leise. 

Du wirst meinen Sohn nie wieder anfassen! Nie. wieder. Hast du mich verstanden?

Er nickte bleich.

Ich drehte mich um und ging. Holte die Sachen des Kobolds aus der Schule, erklärte den Lehrern, dass ich diesen Vorfall mit allen anwesenden Zeugen und dem Direktor besprechen werde und jetzt mein Kind mit nach Hause nehme.

Im Rahmen der Aufarbeitung dieser Vorfälle habe ich die Eltern des Jungen kennengelernt. In Gesprächen mit der Mutter eine Freundin gefunden und beim ersten Treffen auf ihren Ehemann erkannt, warum der Sohn ein Täter war. Viele Opfer werden im Draußen zu Tätern.

Es sollten noch weitere Jahre vergehen, bis dieser Junge das erste Mal bei uns zu Besuch war. An Wochenenden hier übernachtete. Dem Kobold ein Freund wurde. Ein Echter.
Und je älter die beiden wurden, desto weiter wuchsen sie zusammen. Bis der Krebs kam. Bis Dinge passierten. Bis der Hass in diesem Jungen wieder so groß wurde, dass der Hass irgendwo anders hin musste, um seine Seele nicht zu zerfressen.
Ganz abgerissen ist der Kontakt der Beiden nie. Wie auch. Mein großes Kind ist mit der großen Tochter befreundet, mein kleines Kind einer der besten Freunde ihres kleinen Kindes und die Zweitgeborenen konnten sich nicht aus dem Weg gehen. Nicht vollends. Wenn von 11 Kindern 6 regelmäßig miteinander Dinge unternahmen, dann sieht und trifft man sich nicht nur in der Schule.

Er hat sich über die Jahre einen besonderen Platz in meinem Herzen erkämpft. Von völliger Abneigung zu dem Bedürfnis, ihn zumindest ein Stück weit zu schützen, für den Teil, der in meiner Macht liegt. Und Sympathie. Ja. Da ist Sympathie für diesen kriminellen 2-Meter-Brecher von Jugendlichem, der säuft, raucht, Drogen nimmt und herumrandaliert und innen so klein und wund ist, dass ein Lächeln von mir reicht, um die Maske kurz sinken zu lassen.

Und nun?
Nun ist der einzige Mensch, für den er sich angestrengt hat, sich durchzubeißen, die Schule doch noch in Angriff zu nehmen, sich zu bessern, seine Probleme in den Griff zu bekommen, weg.

Tot. 

Die Angst, die ihn die letzten Jahre fast aufgefressen hat, dass seine Mama ihn verlässt, die erschlägt ihn nun. Er ist alleine mit ihm. Mit dem Vater, der ihn hasst. Alleine mit vier Geschwistern, drei davon jünger.
Um die er sich jetzt alleine kümmern soll. 
Stunden nach ihrem Tod diese Sätze: „Du bist jetzt verantwortlich. Du kümmerst dich jetzt um die Kleinen. Ich muss arbeiten. Das ist jetzt deine Verantwortung. Stell dich nicht an.“

Wie oft habe ich von ihr gehört, sie will nur so lange durchhalten, bis die Kinder alle für sich selber sorgen können. Nur noch diese Jahre.
Das war ihr Mantra in unseren Gesprächen, wenn wieder eine Diagnose dazu kam. Dann mit fortschreitendem Verfall nur noch die Hoffnung, durchzuhalten, bis zumindest dieser Eine volljährig ist, damit er ausziehen kann

Es hat nicht geklappt.

Der Kobold ist da und hört zu.
Versucht, ein Anker zu sein, der ein Angebot bereit hält, wenn alles zu viel ist.

Und ich habe Angst um dieses Kind.
Schon längst nicht mehr um meines.
Sondern jetzt um ihres.

Ich kann nur hoffen, dass er irgendwann erkennt, dass sein Mut fürs Leben nicht mit Mama zusammen gestorben ist, sondern irgendwo unter seiner ganzen Angst noch in ihm darauf wartet, dass er ihn findet.

Kati 08.11.2022, 14.00

Kommentare hinzufügen


Kommentare zu diesem Beitrag

3. von Jennifer Lange

Es zerreißt mir das Herz.

vom 18.11.2022, 09.10
2. von Vorsänger

Ich seh so viel von dieser Geschichten in den Kindern und Jugendlichen die ich begleiten darf. Gerade jetzt sinds 2 besonders. Ein jüngerer der zuhause der älteste ist, sich mit jeder neuem Vaterfigur die in sein Leben kommt zerkracht, der Zweifel mit Gewalt löst und Corona genutzt hat um der Schule ganz fernzubleiben und nur mit viel Glück und dank seinem Charm weitermachen darf. Der ruft mich doch tatsächlich an ob ich ihm helfen kann einem Praktikumsplatz zu suchen. Mit Bauchweh ruf ich einen Bekannten an, nur um am Tag den Praktikum von ihm zu hören das er selten mit einem so wissberigen und hilfsbereiten Praktikanten zu tun hatte. Peinlich berührt sagt der Vursvh mir dann auch noch das er grad verdammt gute Noten hat.
Ein Jugendlicher der im Mutter-Kind-Haus aufgewachsen ist. Dessen beschützerinstinkt leicht zur Gefahr für unbedarfte wird, der Schule und die Lehre schmeißt, der den Führerschein macht nur um ihn gleich wieder abgeben zu müssen, dessen rechte Handknochen völlig im Eimer sind weil er sie des öfteren gebrochen hat nach Schlägen gegen die Wand,.... dieser Bär tauchte unter und rief mich eines Tages an ich soll doch ins Krankenhaus kommen. Dort stand dieser mit seinem frisch geschlüpften Sohn im Arm. Freudestrahlend. Er hatte zuletzt keine Zeit den er hat einen Job für sich gesucht und ist dort bereits aufgestiegen, hat eine Wohnung für Mutter und Kind gefunden und eingerichtet und sich auch sonst vorbereitet. Mittlerweile ist der kleine 4 Jahre und grad die Mutter krank, deshalb hat er grad gar keine Zeit weil er ja den kleinen in den Kindergarten bringen muss, danach zur Arbeit geht, dazwischen den kleinen abholt zur Oma bringt und später wenn er den kleinen wieder heimgesucht hat die Arbeitszeit nachholt. Auf meine Frage warum er den Buben nicht gleich bei der Oma lässt antwortet er entsetzt er könne ihn ja nicht so lange aus dem Kindergarten nehmen und überhaupt morgen ist Laternenumzug und er har sich extra frei genommen um dabei zu sein.
Manchmal glaub ich fast das Wunder die Regel sind... dementsprechend wünsche ich auch dem Kobold und seinen Freund das sie sich weiter stütze sind und immer wieder Lichtblicke kommen!

vom 08.11.2022, 19.33
1. von Ute

Schrecklich, da zuschauen zu müssen, ohne eingreifen zu können. Gutes Durchhalten für dich und hoffentlich eine baldige bessere Lösung für den jungen Mann.

vom 08.11.2022, 19.07



Das Tragische an diesem Leben ist nur, dass es auf einer wahren Geschichte beruht.


woanders:




















Einträge ges.: 351
ø pro Tag: 0,1
Kommentare: 430
ø pro Eintrag: 1,2
Online seit dem: 21.04.2016
in Tagen: 2951



Do what is right. Not what is easy.