Ausgewählter Beitrag

Von Körpern, vom Altern, von der Liebe

Ich war fünf, als ich das erste Mal meine Mutter weinend im Keller fand.
Und ich wusste mit dem gesamten Instinkt eines Kindes, worum es geht. Es wurde nie ausgesprochen. Ich hab sie geliebt. Pia. Eine so herzensgute Frau, die mich durch die Chemielabore der Universität führte und auf mich aufpasste, wenn mein Vater beschäftigt war. Schwarzer Wuschelkopf, dunkelbraune Augen, die Anmut und Eleganz in Person und dabei so unglaublich zugewandt. So warmherzig. Alles, was meine Mutter nie war.

Ich kann mutmaßen, warum er sich in sie verliebt hatte. Aber ich weiß es nicht. Denn wir sprachen ja nicht über diese Dinge. 35 Jahre später sollte ich von meiner Großmutter erfahren, dass „das junge hübsche Ding mit den schwarzen Locken“ dafür verantwortlich war, dass wir damals so weit weg zogen. Mal wieder.

Ich bin inzwischen in dem Alter, in dem meine Mutter mit ihren Schönheitsoperationen begann. Nach endlosen Diäten, die ich allesamt mitmachen musste, begannen mit meiner Pubertät ihre Besuche bei führenden Schönheitschirurgen.
Ich war überall dabei.
Der unnachsichtige schwarze Edding auf der nackten Haut meiner Mutter kombiniert mit den kühlen Bemerkungen über Ästhetik und Machbarkeit ließ mich schnell begreifen, dass eine Frau vor allem dünn und straff zu sein hatte.
Das Ideal meines Vaters, dem sich die gesamte Welt unterordnen musste.

Meine Mutter nahm ab und nahm wieder zu und wieder ab, es war ein täglicher und endloser Kampf um Kalorien, in den vor allem ich mit einbezogen wurde.

Ich habe eine Tante - die Schwester meiner Mutter - die immer unglaublich dick war. Ihr Mann - mein Onkel - ist ein muskulöser Mann, der seine Frau und ihren Körper vergöttert. Alles, was ich in Kindheit und Jugend im Positiven über sexuelle Anziehungskraft gelernt habe, habe ich in dieser Beziehung sehen dürfen.
Dieser Blick, wie er nur Augen für meine Tante hatte, sie anhimmelte und bewunderte und ihr immer und zu jedem Zeitpunkt zu verstehen gab, dass sie körperlich und geistig seine absolute Traumfrau sei.

Bei längeren Aufenthalten der Beiden bei uns führte das zu einer nicht unerheblichen Menge an Spannungen.
Eines Abends, als mein Vater schon wieder einiges getrunken hatte, wurde ihm die Turtelei der beiden zu viel und er stand schnaubend auf.

Geklapper aus dem Arbeitszimmer und er kam kurz darauf mit einem Stapel Playboys wieder, den er vor der gesamten Familie auf den Wohnzimmertisch knallte. „SO!“, brüllte er, „SO SEHEN RICHTIGE FRAUEN AUS! NICHT WIE DIE FETTBERGE, DIE HIER GERADE SITZEN!“.

Ich kannte die abfälligen Bemerkungen über meinen pubertären Körper, den mal dünnen, mal dicken Körper meiner Mutter und den immer kompromisslos weichen Körper meiner Tante, aber dieser Moment hatte eine Intensität, die im Laufe der nächsten Jahre noch zunahm.
An diesem Abend zerbrach sehr viel in sehr vielen Menschen.

Ich bin 44, übergewichtig, habe Falten, meine Brüste hängen, ich habe 9 Kinder in meinem Körper getragen, er hat zahlreiche Narben, hat meine Verletzungen und Brüche heilen lassen und gibt all meinen Anteilen ein Zuhause.
Er ist kräftig, stark und er trägt mich.

Mein Mann lässt seit 18 Jahren keinen Zweifel daran, dass ich die schönste, attraktivste und erregendste Frau dieser Welt für ihn bin. Ich lege meine Hand generell nicht für Menschen ins Feuer, aber diese körperliche Anziehungskraft zwischen uns ist etwas, das so unumstößlich in meiner Selbstbetrachtung verankert ist, dass ich nicht zweifle.

Als meine Mutter 44 war, waren nach Bauchdecke und Oberschenkeln gerade die Brüste dran. Ich musste die Wundversorgung zuhause machen und ihre körperliche Übergriffigkeit nahm durch die bei der medizinischen Versorgung notwendige Nähe wieder zu. Mein Vater kommentierte das ganze Operationsprozedere in denkbar destruktivster Weise und war in dieser Zeit mit seiner Sekretärin äußerst beschäftigt.

Ich erinnere mich nach den depressiven Tiefpunkten, in denen sie mich sexuell überhaupt nicht in Ruhe ließ, an sehr euphorische Phasen, als alles schön hochgeschnallt und verheilt am Körper stand - denn hängen konnte ja nichts mehr - und ihre exhibitionistische Ader völlig aus dem Ruder lief, egal, ob es sich um Väter von Freundinnen, Lehrer oder um den Obstverkäufer handelte.

Das war dann auch die Phase, in der ich mit ihr alleine auf Reisen gehen musste. Wir durchquerten ganz Europa. Und egal, ob Italien, Frankreich oder Monaco, die zur Schau gestellte verzweifelte Körperlichkeit einer alternden reichen Frau lockt nicht die Art von Männern an, denen man abends im Dunkeln begegnen möchte

Ich weiß noch gut, wie wütend sie wurde, als ich am Mittelmeer von einem erwachsenen Mann massiv sexuell belästigt wurde, weil ich doch schließlich nicht so attraktiv war wie sie. Wie konnte er es wagen, mich zu belästigen, wenn doch sie da war?
Der Hass, mit dem sie mich anklagte, kokettiert zu haben, um SIE auszubooten, öffnete eine ganz neue Dimension an Schuldzuweisungen.
Der Absurdität waren in diesen Jahren kaum Grenzen gesetzt.

Was macht das also heute mit mir? Manchmal betrachte ich meinen Körper und sehe Gemeinsamkeiten, die mir das Blut in den Adern gefrieren lassen.
Nicht nur, dass ich ihr im Gesicht äußerst ähnlich sehe, auch mein Körper weist einige Ähnlichkeiten auf. Ich sehe jeden Tag meinen eigenen Täter im Spiegel.

Ich bemühe mich, mich in diesen Momenten durch die Augen des Mannes zu betrachten und das bedeutet, so viel Liebe in meinen Blick zu legen, dass die Erinnerung an Macht und Ekel verliert.

Körperlichkeit bedeutet in unserer Familie Geborgenheit, Liebe, Wärme.
Ein Körper muss keine bestimmte Form haben, nicht auf eine bestimmte Art und Weise aussehen, nichts leisten, um dafür wertgeschätzt zu werden, dass er uns durchs Leben trägt.

Ich musste das erst lernen und der Weg war mühsam.
Bei mir selber gelingt diese Betrachtungsweise noch nicht immer, aber besser, je älter ich werde.

Ich werde meinen eigenen Weg finden, so zu altern, dass ich - und nur ich - damit gut leben kann.

Kati 23.01.2023, 15.02

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Kommentare zu diesem Beitrag

5. von ID1908

Es sollte ein grünes Herz sein, o-O funktioniert hier nicht.

vom 25.01.2023, 13.32
4. von Diana

Du bist mit absoluter Sicherheit ein wunderschöner Mensch. Außen und innen. ????

vom 24.01.2023, 19.25
3. von Daniela

Du hast nicht nur einen starken Körper, sondern auch einen starken Geist. Es ist nicht selbstverständlich, dass sich aus so einer unvorstellbaren Kindheit, wie du sie erlebt hast, ein reflektierte, charakterstarker Mensch entwickelt. Auch wenn jeder Tag ein Kampf für dich sein mag.

vom 24.01.2023, 16.36
2. von Tanja

Jeder Deiner letzten Beiträge lässt mich sprachlos zurück. Immer wieder versuche ich einen Kommentar zu formulieren und finde doch nicht die richtigen Worte.

Sich selbst zu lieben / lieben zu lernen ist eine der schwersten Aufgaben, die es gibt. Und es ist wunderbar, wenn man Menschen an seiner Seite hat, die einem dabei helfen, das zu tun und einen so lieben wie man ist. Familie und Zuhause müssen nicht immer Blutsbande sein.

vom 24.01.2023, 09.14
1. von Latschenhatscherin

Unglaublich anrührend.
Liebe heilt alle Wunden, alles Gute für Euch!

vom 23.01.2023, 21.13


Das Tragische an diesem Leben ist nur, dass es auf einer wahren Geschichte beruht.

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