Blogeinträge (themensortiert)

Thema: Alltag

Drahtseil

„Du gehst seit Monaten nicht ans Telefon, wenn ich anrufe.“

- Ja, ich kann nicht.

„Willst du sprechen oder soll ich einfach weitergehen?“

Es ist zu spät. Ich merke, wie sich die Dunkelheit öffnet.

- Mein Vater hat sich umgebracht.

Suizid, hämmert es in meinem Kopf. Es heißt Suizid. Aber es ist egal. Der einzige Mensch, der so roh und brutal und ungefiltert sagen kann, was er denkt und der mich ohne Kompromisse genauso annehmen kann, steht hier vor mir und ich bin so lange Monate vor ihm weggelaufen, damit ich die Mauern oben lassen kann, dass jetzt nichts mehr geht.

„Wichser.“

Ich nicke. Habe kein Verlangen, ihn zu verteidigen, auf seine Krankheiten und Schmerzen hinzuweisen, zwischen uns ist Platz für brutale Wut und den Hass, den ich mir verbiete.
Ich merke, wie die Maske der Menschlichkeit immer weiter sinkt und sie lockt mich. Wie sie das immer tut. Spüre den Wechsel, der sich ankündigt und weiß wieder, warum wir normalerweise telefonieren. Zuhause kann ich mich fallen lassen, kann abtauchen in die Welt, die nicht meine sein darf. Hier nicht. Verfluche mich selbst, dass ich nicht vorsichtiger war, dass ich ihr in die Arme gelaufen bin.

- Kein gutes Thema.

Sie nickt. Auch sie ist in der Öffentlichkeit und hier werden Grenzen toleriert. Das haben wir gelernt.

„Ich werde wieder anrufen.“

Ich nicke. 

- Und ich weiß nicht, ob ich abnehmen werde.

„Vielleicht nächstes Jahr.“

- Ja. Vielleicht.

Vielleicht. Vielleicht nächstes Jahr wieder.

Kati 21.11.2022, 14.37 | (0/0) Kommentare | PL

Bleibt alles anders

Die Diagnosen kamen unerwartet.

Wenn man sein Kind regelmäßig zu allen Vorsorgeuntersuchungen schleppt und der Arzt aufgrund von Vorerkrankungen kein Fremder ist, dann... ja was eigentlich? Dann erwartet man irgendwie, dass man eine neue Diagnose am Anfang erwischt, oder?
Nicht schon im Stadium: Oh, das ist jetzt kritisch, hier, ihr Behindertenausweis.

So eine Diagnose hat uns vor einigen Wochen erwischt und seitdem steht unsere Welt Kopf.

Vor allem unser Alltag, der seit 18 Monaten ohnehin keiner mehr ist.
Und hier kommt meine Baustelle hinzu: Wut.

18 Monate lang haben wir uns an alle Beschränkungen gehalten.
Wir haben seit 18 Monaten keinen Freund mehr getroffen, keinen Menschen mehr umarmt, nichts. Keiner von uns.
Als Haus, das immer mit Menschen voll war, die hier einfach vorbeikommen, mitessen, mitfeiern, mit uns sind... war das doppelt hart.

Wir haben keinen Geburtstag gefeiert, wir sind nicht rausgegangen, nicht essen, nicht ins Kino, nicht auf Partys, nichts.
Wir haben uns impfen lassen, als es möglich war und tun trotzdem immer noch nichts, um die Ungeimpften zu schützen.

Dann war am Ende der Sommerferien dieser Lichtblick auf Alltag da.
Ein paar Stunden am Tag für mich, die Akkus wiederaufladen, die seit 15 Monaten dunkelrot blinken. Dauerhaft.

Und dann tastet man bei einer Umarmung des Kindes etwas, das da so nicht hingehört und hat eine Woche später eine Diagnose, die den gesamten Alltag umkrempelt.

An diesem Punkt kommt die Wut. Wut ist in diesem Fall eigentlich nur Trauer, in eine Form gegossen, die man aktiv bewältigen kann, statt passiv an ihr zu verzweifeln. Und das macht sie so wichtig.
Weil man weitermacht.
Jeden verdammten Tag.
Jeden weiteren Schritt.

Die stundenlangen Fahrten zu Fachärzten, die Termine jeden Tag, die neuen Diagnosen, die dazukommen, die Aussicht auf monatelange Trennung vom Sohn, der Aufenthalt in der Klinik weit weg... all das ist mit Wut sehr viel besser zu bewältigen als mit Verzweiflung.

Wut hat den Vorteil, dass sie nicht erschöpft, solange sie brennt.
Man darf nur nie aufhören, nie innehalten, nicht ausruhen.

Sonst fällt alles in sich zusammen.

Auch dafür wird es eine Zeit geben.
Aber die ist nicht jetzt.

Kati 16.09.2021, 08.00 | (4/1) Kommentare (RSS) | PL

Schulbesuch, Corona-Edition

Als der kleine Sohn gestern über den Hausaufgaben saß, lief ihm die Nase.

Kein Schnupfen, kein Husten, keine gelbe oder grüne Verfärbung, kein gar nichts, aber ihm lief halt die Nase.
In den Merkblättern der verschiedenen Schulen ist das ein Ausschlusskriterium für den Schulbesuch, bis sich "ein klareres Bild" ergibt. 

Also blieb der Sohn heute zuhause, wir meldeten eine "laufende Nase" an die Schule mit einem Direktor, der sehr klar äußert, sich von der Politik völlig alleingelassen zu fühlen und haben nun die Anweisung, ihn 24 Stunden zu beobachten und wenn dann weder Symptomveränderungen oder neue Symptome oder Fieber hinzukommen, geht er wieder hin.
Als Dauer-HNO-Patient aufgrund seiner Hörschädigung und einiger Probleme in diesem Bereich, die durchaus Symptomen wie Erkältungen ähneln können, sehe ich unruhigen Zeiten entgegen.
Denn weder bringe ich das Kind nun bei jedem Schnott-Tropfen zum Arzt noch vermute ich gleich eine Infektion dahinter, aber im Sinne eines funktionierenden gesellschaftlichen Gesamtschutzes muss er sicherheitshalber zuhause bleiben.
Und wenn es nur die 24 Stunden zur weiteren Beobachtung sind.

Aber was ist, wenn er tatsächlich eine Infektion hat und die sich dann auch tatsächlich nur in einer laufenden Nase äußert?
Dann schicke ich ihn nach 24 Stunden trotzdem zur Schule, denn die Kriterien sind ja: Wenn es nicht schlimmer wird, Husten oder Fieber dazukommt, ist das Kind schulfähig und verpflichtet, wieder die Schule zu besuchen.
Im asymptomatischen Krankheitsverlauf haben wir dann ein krankes Kind in die Schule geschickt, das alle anderen anstecken könnte.

Was ist die Alternative?
Jedes Mal einen Test zu machen?
Wir verlassen das Haus nur zum Einkaufen, für Arzttermine und Arbeit, halten Abstand, treffen niemanden, tragen Mundnasenbedeckung.
Das steht in keinem Verhältnis zu irgendetwas.
Andererseits haben wir viele Kinder in vielen unterschiedlichen Schulen, die jeden Tag Kontakt mit insgesamt hunderten anderer Menschen haben. 

Ist das das "Restrisiko"?

Ich bin etwas ratlos.

Kati 19.08.2020, 12.00 | (1/0) Kommentare (RSS) | PL

5 Monate

Am 12. März haben wir beschlossen, die Kinder nicht mehr zur Schule gehen zu lassen, am 13. kam für NRW die Mitteilung über die Schulschließungen ab dem 16. März. 

Das ist nun fünf Monate her.
Fünf Monate Homeschooling mit allen Kindern, Sommerferien, Isolation hier zuhause, um sich nicht zu infizieren oder andere anzustecken.
Und heute? 
Heute ist der erste Tag im neuen Alltag.

Corona ist vielleicht nicht vorbei, aber der Mensch gewöhnt sich ja an alles. Leider.
Eine unserer größten Stärken verwandelt sich hier in ein unkalkulierbares Risiko.
Urlaubsreisen, Treffen, mangelnde Hygiene, Rundreisen, Sorglosigkeit, Freizeitparks und nicht einmal mehr das Bemühen, es so aussehen zu lassen, als würde man sich noch Gedanken machen.
Ich weiß nicht, wo das hinführt und wie es weitergeht.
Wie wir als Welt aus dieser Aufgabe hervorgehen.
Was das mit uns macht.
Ich habe nicht das Gefühl, dass wir unterm Strich allzu gut dabei wegkommen.

Und habe ich vor Monaten noch gesagt, wenn diese Krankheit deutlich gefährlicher, tödlicher, stigmatisierender wäre, würden die Menschen anders handeln, glaube ich auch daran inzwischen nicht mehr. Der Großteil von uns ist ja schon völlig unfähig, diese Situation ununterbrochen im Bewusstsein zu halten. 

Die Kinder können nicht mehr aufgrund von Risikopersonen im Haushalt dauerhaft vom Präsenzunterricht befreit werden, also gehen sie zur Schule.
Mit Maskenpflicht im Unterricht. Ich bin gespannt auf die ersten Berichte. 

Meine persönlichen Fäden entwirren sich nur langsam. Ich bin alleine und merke, dass ich freier atmen kann, aber ich bin wie gelähmt. Weiß gar nicht, was ich als Erstes anfassen soll, es sind so viele Dinge und nur so wenig Zeit für diese zwei, vier, sechs? Stunden bis hitzefrei und wer weiß, wie lange die Kinder gehen, wann das Erste mal hustet, Schnupfen hat, 24 Stunden zuhause bleiben muss, wieder schwänzt... er ist noch so unkalkulierbar, dieser neue Alltag.

Vielleicht konzentriere ich mich mal auf das Wesentliche und backe erst mal einen Geburtstagskuchen für morgen.

Kati 12.08.2020, 09.00 | (1/0) Kommentare (RSS) | PL

Be(An-)bauungsplan

Wir haben einen großen Garten.
Nicht riesig, aber schon groß. 
Das Haus steht mitten darin. 

Nun ist es so, dass wir den Hasen einen ebenfalls wirklich großen Teil des Gartens abgetreten haben und den Raketenhühnchen auch.
Die Kinder haben ihre Bewegungsstrecken und das 5-Meter-Trampolin, die Hunde haben ihre Rennstrecke und Schleichwege und wir haben natürlich Terrasse und Schaukelecke.

Da bleibt dann schon nicht mehr so wahnsinnig viel Platz übrig.
Jetzt habe ich aber die Ambition, möglichst viel Grünfutter für Frühling/Sommer/Herbst und Gemüse und Obst für uns anzubauen und fürs Einfrieren und Einkochen und Marmelade und Co. soll es auch noch reichen.
Und Sonnenblumen.
Es ist kein Garten ohne Sonnenblumen.

Ich kämpfe also um jeden Quadratmeter.

Im Hasengehege habe ich meine Pflanztische (in 1,50m Höhe wegen der Löffelterroristen) und ziehe die Pflanzen vor.
Von dort aus geht es dann auf umkämpftes Gebiet. Wird eine Pflanze geerntet, wird sofort die nächste Jungpflanze auf ihren Platz gesetzt.

In der Gartenerde (Bruchsteinstücke mit Lehm verdichtet auf Fels) geht es auf keinen Fall, dort wächst nicht mal Gras - außerdem darf keine Pflanze so stehen, dass die Hunde sie beim Toben umsemmeln oder schlimmer noch anpinkeln.

Also Hochbeete. (Hatte ich erwähnt, dass ein guter Teil des Gartens auch noch aus einem Hang besteht?)
Ich baue hier ein Hochbeet und dort Eines und habe Pflanzsäcke gefüllt mit guter Erde aus einem der 5 Komposthaufen. Und es ist immer zu wenig Platz. Immer.

Man kann sich jetzt darüber streiten, ob ich wirklich 300 Kohlrabipflanzen brauche oder 200 Kopfsalat oder 70 Kilo Kartoffeln, aber jedes Gemüse, das wir nicht essen oder haltbar machen, landet bei den Kaninchen und spart dort wiederum Futter.
Wer Kaninchen einmal über ein Feld mit Gemüse hat herfallen sehen, dem ist klar, dass es hier ein zu viel nicht gibt und warum diese Tiere abgeschossen werden. Also, nicht bei uns im Garten, aber sonst eben.

Jetzt kam ich dank Pinterest auf die großartige Idee, meine großen Pflanzen (Gurke, Zucchini, LuffaGurke) nicht eingeschränkt hochranken zu lassen, sondern ein Drahtgestell in zweieinhalb Meter Höhe über Teilen des Kaninchengeheges zu bauen und ihnen für den Sommer quasi ein Schattendach wachsen zu lassen. Sie kommen nicht an, die großen Pflanzen bekommen ihren Platz, spenden dafür Schatten und wir können bequem unter durch laufen und Gemüse ernten.

Eine zweite Gartenetage.

Dass ich da nicht früher drauf gekommen bin!

Kati 07.06.2020, 18.00 | (2/1) Kommentare (RSS) | PL

Schnitte

Ich habe heute die Funkien geteilt.

Nicht, dass das irgendetwas Besonderes gewesen wäre, das ich an anderen Tagen nicht tue, aber heute hat es mir ein Stück inneren Frieden geschenkt.
Nicht nur ein bisschen, nicht den allgegenwärtigen „Ich bin im Garten und so dankbar für Haus und Natur drumherum und das Wetter ist schön“-Frieden, sondern tiefes Glück. Das, das man spürt, wenn man mit sich und der Welt im Einklang ist. Wenn man geerdet ist. Viele dieser Redewendungen kommen völlig zu Recht aus der Natur.

Ich habe also aus einigen wunderbaren großen starken Pflanzen jeweils 4-6 „neue“ Pflanzen gemacht, wobei das ja gar nicht stimmt. Alles ist eins. Man gräbt den recht dichten und schweren Wurzelballen aus – ich habe das heute gemacht, weil es so viel geregnet hat und schön kühl ist – und lässt sich überraschen.

Es gibt zwei Arten von Pflanzen.

Die, die schon beim Ausgraben auseinanderfallen und bei denen man sich nur noch durch das Gewirr an Wurzeln schütteln muss, bis man ein halbes Dutzend neue Pflanzen in der Hand hält.
Sie sind perfekt. Jede Einzelne. Jede hat reichlich Blätter, schöne Wurzeln und ist an keiner Stelle mehr mit der ursprünglichen Pflanze verbunden.

Und dann gibt es die anderen. Der Wurzelballen ist so fest, so dicht verwachsen, dass selbst große Steine darin festgehalten werden. Das sind die Pflanzen, die ich am liebsten sofort wieder einbuddeln würde. Dort fällt nichts auseinander. Alles ist verbunden, dicke, saftige Rhizome ziehen sich von Pflanzenteil zu Pflanzenteil und es gibt nur eine Möglichkeit, diese Pflanzen zu teilen: Mit einem möglichst scharfen Messer.

Natürlich sieht man, wo sich die einzelnen Pflanzenteile voneinander trennen wollen, und genau dort schneidet man. Das ist für mich nie ein gutes Gefühl. Ist doch auch die Wahrscheinlichkeit, die Pflanze so zu verletzten, dass sie eingeht, sehr viel höher als im ersten Fall.
Und dann täte es mir um all die Jahre leid, die ich die Pflanze schon begleite – vom Samen bis hin zur prächtigen, ausladenden Staude.

Nur, weil so ein Depp wie ich plötzlich auf die Idee kommt, ein fest zusammengewachsenes Gefüge teilen zu wollen und dabei aus Unachtsamkeit einen Teil einfach tötet.

Aber ja, auch das ist Wachstum.
Das Trennen von (auch noch durchbluteten) Lebensadern.

Auf dass jeder einzelne Teil auf sich allein gestellt eine noch größere und noch prächtigere Pflanze werden kann, als es ihm im Verbund jemals möglich gewesen wäre.

Kati 06.06.2020, 20.00 | (2/2) Kommentare (RSS) | PL

Geburtstag mal anders

Seit die Kinder 5 Jahre alt sind, geben sie Geburtstagspartys, die an Größe und Aufwand kaum zu überbieten sind.
Einfach, weil wir das lieben und es für uns etwas Großartiges ist.

Dieses Jahr ist alles anders. 
Normalerweise wäre ich Anfang Mai schon mitten in Vorbereitungen, Aufbauten, Spielkonzepten und Materialbeschaffung oder -ordnung.
Nicht dieses Jahr.
Wir feiern nicht.

Da die Kinder noch nie weitere Familie hatten (ich habe keine Geschwister, der Mann hat keinen Kontakt, unsere Mütter sind tot, die Väter wohnen weit weg), war immer klar, dass ein Geburtstag etwas ist, das man mit seiner Wahlfamilie - nämlich all seinen Freunden feiert.

Es ist spannend, zu erleben, was der Verzicht darauf in diesem Jahr mit uns macht. Ich habe sehr viel freie Energie und Zeit, die ich anderweitig investieren kann und genieße das mit einem lachenden und einem weinenden Auge.
Die Partyplanung für so viele Kinder war immer fester Bestandteil meines Jahresablaufs und letzen Endes natürlich auch ein Teil meines Geschenks an das jeweilige Kind.

Die Kinder nehmen auch diesen Aspekt mit eher stoischer Gelassenheit hin. Genau wie all die anderen Einschränkungen, denen sie gerade unterliegen. Ich werte es als positives Zeichen, dass sie sich auch in diesen stürmischen Zeiten kaum aus der Ruhe bringen lassen und im Grunde genommen doch all das hier haben, was sie brauchen.
Die Kanäle, über die sie mit ihren Freunden kommunizieren können, sind dieser Tage gefühlt immer offen und das fängt viel auf.
Das wird an ihren Geburtstagen ebenfalls tragen, dass die Menschen, die ihnen nahestehen, zwar nicht anwesend, aber da sind.

Kati 05.05.2020, 18.00 | (1/1) Kommentare (RSS) | PL

Corona

Es ist immer wieder erstaunlich, wie Menschen es schaffen, mein Bild von dem, was wir so euphemistisch "Zivilisation" nennen, noch weiter nach unten zu korrigieren.

Ich bin zurzeit so fertig mit meinen Mitmenschen und meine Nächstenliebe ist weit über das normale Maß hinaus erschöpft. Die angespannte Situation fordert ihren Tribut, die Nerven der meisten Leute liegen blank und ich bin so unendlich dankbar, dass ich meine Kinder hier bei mir haben kann und sie nicht rauslassen muss.

Ich bin dankbar für Haus und Garten und ganz ganz viel Abstand zu den vielen Irren, die da draußen anscheinend nur noch von ihrem Reptiliengehirn gesteuert werden.

Kati 16.03.2020, 12.00 | (1/1) Kommentare (RSS) | PL

Die Tüte am Tor

Wir haben eine Nachbarin, von der niemand von uns weiß, wie sie heißt, wo genau sie nun "oben auf dem Berg" wohnt oder wie ihre Lebensumstände sind.

Wir wissen nur, dass sie früher auch einmal Kaninchen hatte und beim Anblick unserer Tiere im Garten, wenn sie hinten über den Zaun schaut, viel Wehmut verspürt.
Es ist Jahre her, dass wir das erste Mal über die Tiere gesprochen haben und sie mich fragte, ob sie denn von Zeit zu Zeit ein paar Grünabfälle bringen dürfte - für die Tiere. Oder trockene Brötchen. Ihre hätten so gerne trockene Brötchen gegessen. (Unsere tun das natürlich auch liebend gern.)

Und aus "von Zeit zu Zeit" wurde schnell "regelmäßig ein bis zweimal die Woche" und ich freue mich von ganzem Herzen jedes einzelne Mal, wenn ich die Haustür öffne, und eine kleine Tüte am Tor hängt.
Mal sind es nur die Schale und die Blätter von einem Kohlrabi, mal getrocknete Brötchen, manchmal aber auch ein halber Salat und ein halber Blumenkohl. Ich verspüre sehr viel Zuneigung für diese Form von Zwischenmenschlichkeit.

Manchmal habe ich das Glück, sie rechtzeitig zu sehen und wir reden eine wunderbare Weile über Gott und die Welt, aber in den meisten Fällen hängt da nur diese Tüte, die Sinnbild für so vieles ist, was ich an diesem Leben liebe.

Kati 10.03.2020, 09.00 | (0/0) Kommentare | PL

Der Kiosk

Als ich hier vor 15 Jahren ankam, mit nur einem Kind, einem Hund und so viel Gepäck, Habseligkeiten und Möbeln, wie in einen kleinen Honda passte, da war der Kiosk noch eine Tankstelle.
Er sollte in den Jahren danach noch Pizzeria sein, Frittenbude, Privatwohnung, Dönerstand und war zwischendurch immer mal lange Monate verlassen.

Vor einigen Jahren nun zog eine türkische Familie hierher, die sich des Kiosks angenommen hat. Morgens um 6 Uhr werden die Monoblocks vor die Tür gestellt, der Tisch kommt in die Mitte und dann holt man sich von der gegenüberliegenden Bäckerei erst einmal Frühstück.
Wenn ich zum Sport gehe, stehen bereits einige Aufsteller draußen und die Familie ist zu Kaffee und Zigaretten übergegangen.

Innen ist der Kiosk ein Kiosk, wie ich ihn aus meiner frühesten Kindheit kenne.
Eng, vor allem.
Man muss aufpassen, dass man beim Drehen nicht die halbe Ladenenrichtung herunterreißt, überall stehen Bonbongläser, Zigaretten, Zeitschriften und billige Spielsachen. Für meine Kinder ist dieser kleine Ort eine Goldgrube.
Man bekommt grundsätzlich bei jedem Besuch einen Lolli geschenkt - egal ob man nun etwas gekauft hat oder nicht.
Wenn man nicht genug Geld dabei hat, dann werden schon mal ein paar Cent erlassen und alles in der warmherzigsten Atmosphäre, die man sich nur denken kann. Unterricht im Grundwortschatz Türkisch inklusive.
Die Kinder kommen regelmäßig mit den weißen Papiertütchen voller Süßigkeiten von dort wieder, die auch ich noch aus meiner Kindheit kenne. Ich war einige Male mit, wurde mit offenen Armen empfangen, die Kinder liebevoll sofort mit ihren Lieblingssüßigkeiten versorgt und ich hätte mich am liebsten zu der Familie um den Tisch inmitten von Aufstellern mit Vuvuzelas und Merchandizing-Artikeln von 2006 dazugesetzt.

Ich hoffe, dass dieser Kiosk, der mit soviel Liebe und Herzblut betrieben wird, einmal einen besonderen Platz in den Kindheitserinnerungen meiner Kinder haben wird.

Kati 27.01.2020, 18.00 | (1/1) Kommentare (RSS) | PL



Das Tragische an diesem Leben ist nur, dass es auf einer wahren Geschichte beruht.

woanders:







Einträge ges.: 363
ø pro Tag: 0,1
Kommentare: 437
ø pro Eintrag: 1,2
Online seit dem: 21.04.2016
in Tagen: 3019

Do what is right. Not what is easy.
you want. It doesn't matter anyway.