Wut

Es gibt Tage, an denen so viel Wut hochkocht.
Wut, Hass, Trauer, Frust.
Aber vor allem: Wut.
Wut auf massive Versäumnisse und Erziehungsfehler einer Frau, die keine Antworten mehr geben kann, weil sie tot ist.

Kati 21.02.2017, 12.00| PL | einsortiert in: Gedankenchaos

Wie ich einmal einem Internettroll die Stützstrümpfe hochzog

Es passiert ja eher selten, dass Oma sprachlos ist.

Aber als die neue Zimmernachbarin im Krankenhaus laut schimpfend und um sich schlagend in einem Rollstuhl ins Zimmer gefahren wurde, blieb selbst ihr der Mund offen stehen und sie hörte mitten im Satz auf zu reden.

"Ich kann nicht hierbleiben! Ich muss an meinen Computer!"


Die große Frau, die im Rollstuhl saß, hatte wirres graues Haar, eine dicke Warze und eine Lesebrille auf der Nase, einen babyblauen Strickpullover, eine Windel und Stützstrümpfe an.
Sonst nichts.

"Ich.muss.an.meinen.Computer.", erklärte sie dem Pfleger, als wäre dieser geistesgestört. "Sie hatten einen Schlaganfall. Sie müssen jetzt im Krankenhaus bleiben und sonst nichts. Wir rufen ihre Angehörigen an, die können ihren Computer ja ausschalten.", antwortete er freundlich und es war, als hätte er in ein Wespennest gestochen.

"Sind Sie WAHNSINNIG???", brüllte die alte Frau ihn an. "Ich habe meine Texte von heute noch nicht abgeschickt!"

Der Pfleger hob sie mit einer Kollegin ins Krankenbett und mir wurde klar, dass das Tochterkind, Uroma und ich gerade sehr unhöflich starrten, als wären wir Schaulustige bei einem Autounfall.

Ich räusperte mich.
"Oma, wir gehen mal kurz raus, damit die Frau sich hier einrichten kann."
Oma sah mich entgeistert an.
"Dann verpasst du doch das ganze Schauspiel hier, Kind!"


Es muss schön sein, sich mit 90 keine Gedanken mehr über Umgangsformen machen zu müssen, denke ich so bei mir und schiebe das Tochterkind kurzerhand aus dem Zimmer.

Als immer mehr Schwestern und Pfleger ins Zimmer eilen und ich immer lauteres Gebrüll von drinnen höre, überlege ich kurz, ob ich Oma vielleicht retten sollte, aber das würde sie mir im Leben nicht verzeihen.
Nach einer viertel Stunde ist Ruhe. Ich sehe Klinikpersonal leicht derangiert aus dem Zimmer kommen und durchschnaufen.
Ich lächle den Pfleger aufmunternd an, der mir zunickt, wir könnten jetzt gerne wieder zu Oma gehen.

Leise und vorsichtig betreten wir das Zimmer.
Die Frau liegt in ihrem Bett, Bettwäsche und Kissen liegen im Zimmer verstreut. Sie scheint sie wütend rausgeworfen zu haben.
"Dieser Saftladen.", murmelt sie mit ihrer herben, dunklen Stimme vor sich hin. Allerdings schon längst nicht mehr so laut wie vorhin. Ob sie ihr ein Beruhigungsmittel gegeben haben? "Ich werde denen schon zeigen, was ich davon halte. Die werden schon noch sehen...", brummelt sie und scheint in einen Dämmerzustand zu wechseln.

Ich sehe Oma an.
Missbilligend schüttelt sie den Kopf. "Wie kann man sich mit 91 Jahren nur so aufführen?"

Ich ziehe die Augenbrauen hoch.

Oma thront in ihrem Zuhälter-Bademantel aus Leopardenplüsch und Fellbesatz an Kragen und Ärmeln in ihrem Bett und hat ihrer anderen Zimmernachbarin, die immer nur schläft, anscheinend wieder den Joghurt geklaut.
Sie löffelt gedankenverloren vor sich hin. "Schlimm, schlimm."

---

Einige Stunden später sind wir wieder im Krankenhaus.

Die Frau neben Oma ist wach - sehr wach - und hat Besuch. Ihr Sohn, vermute ich.

Die Art, wie sie den geschätzt fast 70jährigen durchs Zimmer scheucht, spricht Bände.

"Manfred. Du musst dir aufschreiben, wie die Leute hier heißen. Dann kann ich Beschwerden schreiben. Ich muss wieder an den Computer. Im Internetz kann man das machen. Ich brauche Namen!" Sie sieht erschöpft aus. "Namen, Manfred! Hörst du?"
Der Mann hat hochrote Wangen und sieht aus, als würde er sich extrem unwohl fühlen. "Du musst auch deinen Kindern Bescheid geben. Sie können mich heute Abend besuchen. Hörst du? Ich kann nicht lange hierbleiben! Ich muss unbedingt bald wieder nach Hause an den Computer."

Der Mann reicht ihr eine Tupperdose mit geschälten Äpfeln, die sie mit einer Zange herausnimmt und sich in den Mund steckt. "Das Essen hier ist so furchtbar. Ich muss nach Hause. Muss..."

Oma ist derweil nicht in ein Gespräch zu verwickeln, weil sie völlig fasziniert starrt. Und ab und zu den Kopf schüttelt.
 
Der Mann versucht mehrfach, sich zu verabschieden. "Du willst mich doch nicht unglücklich machen, und schon gehen, oder Manfred?" Er sieht sich hilfesuchend um. Fängt aber nur Omas Blick auf, die ihn neugierig ansieht.

Nach einer weiteren halben Stunde schafft er es endlich. Er hat noch einen Termin. Einen wichtigen. Und ja, er wird sich gleich die Namen der Schwestern aufschreiben. Und ja, auch die des Pflegers, der sie so grob misshandelt hätte.

Als er geht, ist es kurz still im Zimmer.
Die Frau fängt wieder an zu brummeln und mit sich selbst zu sprechen. Dass sie nicht hierbleiben könne. Und dass sie dem Krankenhaus mehrere schlechte Bewertungen schreiben würde. Die würden schon sehen, was sie davon haben.
Sie wälzt sich im Bett herum und strampelt die Decke weg.
Einer ihrer Stützstrümpfe ist heruntergerutscht und sie versucht, ihn mit steifen Armen wieder hochzuziehen.
Es klappt nicht.
Sie fängt an zu weinen.
Oma boxt mich sehr entschlossen in die Seite und schubst mich. "Geh mal helfen, Kind. Du siehst doch, dass sie das nicht schafft."

Ich sehe sie skeptisch an. Aber ihr Blick duldet keine Widerworte. Also gehe ich ein Bett weiter und warte, bis ich die Aufmerksamkeit der Frau habe. "Darf ich Ihnen helfen?", frage ich vorsichtig und mache mich darauf gefasst, dass sie etwas nach mir wirft.

Stattdessen strahlt sie mich an. "Das ist ja sehr nett von Ihnen. Sie sind doch keine Schwester hier, oder?"
Ich schüttle den Kopf. "Nein."
"Ja, dann machen Sie mal."
Ich ziehe ihr vorsichtig den Stützstrumpf hoch und sie lächelt erleichtert.
"Hach, das ist schön. Können Sie die Decke noch aufschütteln?"

Im frisch aufgeschüttelten Bett lässt sie sich in die Kissen sinken und wendet sich uns zu.

"Hier werden alle noch bereuen, dass sie mich so behandeln." Sie blickt Oma an. "Sind Sie auch im Internetz unterwegs?"

Oma antwortet, dass sie mit dem neumodischen Kram nichts am Hut hat.
Sie würde Fernsehen kucken.
Die alte Frau schüttelt den Kopf.

"Im Internetz ist es viel lustiger, als ständig vor der Röhre zu hängen. Ich bin den ganzen Tag da drin. In unserem Alter haben wir ja Zeit, nech? Morgens mache ich mir einen Kaffee und dann schreibe ich Kommentare. Auf Forummen. Auf Homm-Päitsches! Auf Blocks! Das ist so lustig! Niemand weiß, wer ich bin. Und dann regen sich alle auf und ich habe den ganzen Tag was zu lesen!"

Sie strahlt überglücklich und ich sehe sie fassungslos an.

Ich habe mich meine gesamte Internet-Zeit über gefragt, was Internettrolle wohl für Menschen sind.

Jetzt weiß ich es.

Kati 15.02.2017, 09.00| (3/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Alltag

Neun?

Natürlich haben der Mann und ich überlegt, ob wir sie nicht einfach hierher holen können. Auch unter diesem Aspekt beobachte ich sie während der Tage, die wir in der großen Stadt sind.

Schätze ab, wieviel Hilfe sie benötigt. Ob ich das leisten könnte.
Zusätzlich zu den eigenen vier Kindern, den zwei Zusatzkindern, Haus, Garten, Tieren und Ehrenamt.

Ich springe ins kalte Wasser. Ausziehen, anziehen, umziehen, waschen, zur Toilette bringen. Ich habe vorher Youtube-Videos angesehen, wie man das macht. Für irgendwas muss das ja gut sein.
("Die machen Tutorials für ALLES, Mama!", erklärte mir das große Kind professionell und so ist es tatsächlich)

Es ist überschaubar, aber fordernd. Wenn sie aktiv ist, ist sie es im wahrsten Sinne des Wortes. Aufstehen, zum Tisch, auf den Stuhl, einmal essen, trinken, Tabletten, zur Toilette, waschen, wieder zurück. Über das Weltgeschehen diskutieren, über Donald Trump herziehen, die Flüchtlingssituation erörtern, großer Bogen zum zweiten Weltkrieg,  als sie im Februar des letzten Kriegsjahres die Weserbrücken zerbombt haben. Zurück in die Gegenwart und in den Krankenhausalltag.

Wenn sie dann erschöpft ist, dann kippt ein Schalter um, der sie in den Dämmermodus versetzt. Zack. Noch kurz ins Bett, winken, bis später.
Dann gehen das Tochterkind und ich für drei Stunden in die Innenstadt, essen, bummeln und haben Spaß und finden sie beim Ankommen im Krankenhaus genau so, wie wir sie verlassen haben.

Das ginge dann auch nicht mehr.
Wenn sie hier zuhause wäre.
Oma kann nicht alleine bleiben.

Können wir das leisten? Wir haben eine absolut belastende Situation mit den Zusatzkindern hier und sind aus-gelastet. Andererseits läuft für Oma die Zeit. Ich will nicht, dass sie auf Dauer wieder ins Heim zurück muss. Wir würden denselben Zyklus von Depression, Verfall und Aufpäppeln im Krankenhaus doch immer wieder erleben. Alleine leben kann sie auf gar keinen Fall mehr. Zu viel ist vorgefallen.

Der Mann und ich sind ratlos, alle beide.
Auf der einen Seite steht der Kopf, auf der anderen Bauch und Herz.
Wer wird Recht behalten?
Für das Richtige plädiert bei uns keiner mehr.
Das ist letztes Jahr schon schief gegangen.

Kati 14.02.2017, 09.00| (3/1) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Oma mit der Uhr dran

Der Tod lässt ausrichten, er sei verhindert

"Ich werde jetzt sterben. Habt Dank für alles und macht es gut."

Das waren die letzten Worte, die wir von ihr hörten. Altenheim und Ärzte bestätigten die Situation.
Depressionen, Nahrungsverweigerung, massiver Gewichtsverlust, absoluter Verfall, Krankenhaus.

Das Tochterkind und ich fuhren also auf große Fahrt in die Stadt, die so weit von uns entfernt ist. Zumindest noch persönlich Lebewohl sagen, einmal noch in den Arm nehmen, einmal noch die Hand streicheln, einmal noch...
Es sollte anders kommen.

Die Fahrt dorthin war grauenhaft. Halb rechnete ich damit, dass uns unterwegs der Anruf erreichen würde, dass sie gestorben sei, dass wir zu spät kämen und der Tod schon vor uns da gewesen sei.
Wettlauf gegen die Zeit mit dem Tod.
Großes Lebenskino.

Nur schnell ein paar hundert Kilometer fahren, schnell ins Hotel, schnell die Sachen aufs Zimmer bringen, Schlüssel einstecken und ab ins Krankenhaus.

Wir stürmten halb ihr Zimmer und auf einem riesigen Krankenhausbett saß klein, schrumpelig und weiß, in einem viel zu großen Nachthemd mit lila Punkten darauf: meine Großmutter.

"Wir sind es!", stellte ich das Offensichtliche fest und nahm sie in den Arm.

"Ich will dir mal eins sagen, Kind!", zeterte sie als Begrüßung los: "Der Tod will mich anscheinend nicht!"

Ich schnaufe ein wenig amüsiert, als ihre Bettnachbarin zusammenzuckt und murmelt: "Das sagt man doch nicht..."

"Die ist noch grün hinter den Ohren. Erst 86. Hier!"
, fuchtelt Oma mit ihrer Leberwurststulle vor meiner Nase herum. "Setzt euch und erzählt mir, warum ihr hier seid!"

"Ähm. Oma. Du hast gesagt, du stirbst jetzt einfach? Das geht doch nicht ohne tschüss zu sagen..."  Sie lacht.
Das Tochterkind sammelt sich ob einer sehr fidelen und motzigen Urgroßmutter, die weit von dem entfernt ist, auf das ich sie auf der Fahrt hierher schonend vorbereitet habe.

Sie isst. Trinkt. Bewegt sich.
Es scheint besser zu gehen als im Heim, in dem sie sich auch nach drei Jahren noch nicht eingelebt hat.
Trotz Medikation gegen ihre Depressionen, trotz Ablenkung. Es ist nicht ihres.
Sie hat es sich nicht ausgesucht, von meinen Eltern dort hineingesteckt zu werden und dann nichts mehr von ihnen zu sehen.

Sie will seit langen Monaten nur noch sterben, ich weiß das.
Wir sprechen jedes Telefonat darüber, doch es klappt einfach nicht.

Doch noch nie war es so ernst wie dieses Mal.
Sie hat alles verschenkt, alles geregelt, sich von allen verabschiedet.

Ein hellwacher Geist in einem langsam verfallenden Körper.
Es ist ein Alptraum, der sie nicht mehr loslassen wird.

"Ich gehe nicht mehr zurück ins Heim.
Kuck mal, ob man die Fenster öffnen kann. Das ist doch der 6. Stock, oder?"

Ich seufze. "Du kommst doch nicht mal aufs Fensterbrett, Oma."

"Ach Scheiße!"
, flucht sie laut und ihre Zimmernachbarin starrt sie mit weit aufgerissenen Augen entsetzt an. 

Kati 13.02.2017, 13.00| (1/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Oma mit der Uhr dran

Vom Ziehen lassen

Der kleine Sohn streitet sich mit dem großen Bruder.
Wir haben mal wieder eine Phase der absoluten Vergötterung gepaart mit kontinuierlichem Sägen am Stuhl des Großen.

Also habe ich hier morgens zwei sehr sportliche, sehr mobile und laute Wettkämpfer, die durch mein Erdgeschoss toben, wüten, schreien, springen und spielen. Der große Sohn übt Nachsicht und lächelt milde, als der kleine Bruder zum wiederholten Male aus dem Hinterhalt angreift und auf seinen Rücken springt.
Ich liebe ihn sehr für dieses Lächeln.

Die Schulzeit naht und während sich der große Sohn seine riesigen Schuhe schnürt, ist der kleine Sohn mal wieder beim "Du hast aber...!"-Spiel angekommen. "DU hast aber gesagt, dass...", brüllt es in piepsiger Stimme durch die Diele und als Anwort kommt nur noch ein beruhigendes "Nein, das habe ich nicht gesagt, mein Süßer." vom großen Sohn, dessen bester Freund schon vor dem Gartentor steht und auf ihn wartet, damit sie gemeinsam zum Bus gehen können.

Das Nesthäkchen holt zum vernichtenden Schlag aus:
"Wohl! Dein linker Fuß hat das gesagt!"


Der Große sieht mich erst entgeistert an und grinst dann sein verschmitztes Lächeln, in das ich mich auch bei seinem Vater sofort verliebt habe.
"Mama, da fällt mir jetzt leider auch nichts mehr zu ein, das musst du jetzt mit ihm klären."

Spricht es, umarmt mich, küsst mich so beiläufig auf die Wange, wie wohl nur pubertierende Jungen es tun können und ich ahne, welch großartiger Mann mein Sohn einmal sein wird.

Der Kleine springt ihn von der Seite an und jault ein wehklagendes "Bis heute Nachmittag!" in sein Bein, während ich ihn vorsichtig von seinem großen Bruder löse und auf den Arm nehme.
Er weint, als wir hinter ihm herwinken und jammert - wie jeden Morgen - "Ich will nicht, dass er jetzt geht!" in meine Halsbeuge.

Und ich verstehe ihn so gut.
Nichts in diesem Leben tut so weh wie das Loslassen geliebter Menschen.
Und nichts ist wichtiger.

Kati 07.02.2017, 09.00| (1/1) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: ziehen - beziehen - erziehen



Das Tragische an diesem Leben ist nur, dass es auf einer wahren Geschichte beruht.

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