Ungebunden
Es ist anders als beim letzten Mal.
Das letzte Mal war da nur Schmerz.
Purer, heißer, verzweifelter Schmerz, der meine Seele in Agonie schreien ließ.
Diesmal ist es anders.
Da ist Ruhe. Spöttisches Wissen.
Und an keine Regeln mehr gebunden, von jedem Versprechen gelöst spüre ich in aller Deutlichkeit, dass da, wo jetzt noch Licht ist, bald nur noch Dunkelheit sein wird.
Und ich weiß, wozu ich dann werde.
Aber vielleicht sollte auch das so sein.
Vielleicht war es mir nie bestimmt, dieses kräftezehrende Leben zu leben, in dem ich die blutrote Schwärze in mir verleugnen muss, um in der Verletzlichkeit zu bleiben.
Verletzlichkeit war immer die letzte Bastion in mir gegen das Monster, das ich eigentlich bin.
Und die Kraft, die ich jetzt schon spüre, funkelt verführerisch in mir.
Ich muss sie nur wollen.
Ihr Preis ist die Hoffnung.
Ekel
Ich warte auf den Zusatz. Auf eine weitere Nachricht, irgendetwas, das das relativiert, was ich immer und immer wieder lese. Ich kann die Worte inzwischen auswendig und sie verändern sich einfach nicht. Egal, wie sehr ich mir jedes Mal, das ich vorne beginne, wünschte, sie würden es tun. Ich verstehe, was ich lese, ich begreife es nur nicht. Ich hätte alles darauf gewettet, dass dieser Text einen anderen Inhalt haben würde. Alles. Ich war mir so sicher in meiner Hoffnung, in meinem Wünschen, dass ich nun umso begriffsstutziger versuche, zu verarbeiten, was mir das Herz herausreißt. Selten habe ich mir mehr gewünscht, das Alles oder Nichts ablegen zu können, mich von den Krumen ernähren zu können, die mir hingeworfen werden, endlich zur Erkenntnis zu gelangen, dass ein halbvolles Glas besser ist als ein leeres, aber es gelingt mir nicht. Ich lebe immer im Maximum, immer im Superlativ und was mir mein Leben lang als Manko verkauft wurde, lässt mich hier und heute erneut scheitern. Zu viel. Mal wieder. Zu viel Gefühl, zu viel Erwartung, zu viel alles. Der wilde Ritt in einer Gefühlsachterbahn wie meiner, den nimmt man gerne mit, wenn es zu den eigenen Höhepunkten geht, aber ich für mich war immer zu viel, wenn es hart auf hart kam. Ich zittere, mir ist kalt, mein Magen krampft sich zusammen, ich muss mich übergeben, ich kenne all diese Symptome. So fühlt es sich an, wenn etwas Existentielles in einem stirbt. Ich weiß nicht, wohin mit mir. Ich will schreien, ich will weinen, ich will anklagen, wüten, schlagen, aber da ist nur dieser große Berg Schmerz, der mich erdrückt und jedes andere Gefühl auslöscht.
Ich öffne die Nachricht erneut. Wenn ich sie nur häufig genug lese, dann verlieren die Worte vielleicht irgendwann ihre Fatalität, lassen mich innerlich abstumpfen, ausbluten, bewegen nichts mehr. Aber fürs Erste schnürt sich mir erneut die Kehle zu, bleibt mir jedes Wort im Halse stecken, verpufft jedes Aufkeimen von Gefühl in Hoffnungslosigkeit. Ich kann es nicht glauben. Es kann nicht wahr sein, es stellt alles in Frage, woran ich geglaubt habe, mir fehlt vielleicht nur ein Puzzleteil, es richtig zusammenzusetzen, dass es ein anderes Bild ergibt als das, welches die Worte zeichnen. Drei Stunden. Es wäre genug Zeit gewesen. Der Ekel kommt hoch, wie sehr ich mich exponiert habe. Wie lange Stunden ich in der Nacht mit mir gerungen habe, ob ich etwas so Großes in Worte fassen soll, ein ultimatives Risiko eingehend, etwas so Intimes zu enthüllen. Ich wünschte, ich hätte es nie getan.
Zweifel

Der Alltag hat nun auch die Kinder und mich wieder. Und gleichzeitig heißt das, dass der Countdown läuft.
Ich fühle mich vor allem gehetzt, gesund zu werden. Ich muss Autofahren können, ich muss diese Wege schaffen, ich muss uns hier versorgen können, wenn für den Mann die Operationen beginnen und er schlussendlich mehrere Monate ausfallen wird.
Bei alledem hab ich eine Scheißangst vor allem. Ich habe so viele Monate mit Schwindelattacken, Angst und Panik hinter mir, das alles begann im April letzten Jahres und ich bin jetzt durch die Verzögerung durch die Coronanachwirkungen so weit entfernt von leistungsfähig wie man sich das nur vorstellen kann.
Es ging mir direkt vor meinem Geburtstag so gut, ich war so zuversichtlich und hoffnungsfroh und dann kam diese Kackkrankheit und jetzt stehe ich hier und weiß nicht, wie ich das alles schaffen kann und soll. Und das ist nur der organisatorische Teil.
Ich habe Angst vor dem, was kommt. Angst vor dem, wieviel der Mann in seiner Haupthand verliert. Es ist ja keine Frage von Gelingen oder nicht Gelingen, um Erfolg zu gewährleisten muss man ihm Kraft, Beweglichkeit und Motorik nehmen. Ich habe Angst vor dem Endergebnis und so egoistisch das klingt: Angst um das, was ich verlieren werde. Es sind diese wunderbaren Hände, die mich streicheln, die mir Lust bereiten, die sicher wissen, was sie tun, die mich halten, die immer voller Kraft waren, der Inbegriff von Ästhetik, Geschicklichkeit und Stärke.
Und so unwichtig diese Gedanken im Gesamtkontext sein mögen, sind sie trotzdem da, müssen sie trotzdem reflektiert werden, muss ich sie trotzdem fühlen dürfen, um nicht verrückt zu werden.
Dabei wünsche ich mir in alledem nur, dass er schmerzfreier wird und alles andere wird sich dem unterordnen müssen. Es wird, weil es muss.
Wider die Vernunft
Mein Bauch schreit. Es stimmt etwas nicht und es entzieht sich völlig meines Einflussbereichs. Ich blicke auf die Worte, die mir geschrieben wurden und alles in mir brüllt, jede Alarmsirene schrillt, alles blinkt dunkelrot und ich kann nichts tun. Hilflos. Mein Magen krampft sich zusammen und wenn ich die Verbindung nicht verlieren möchte, dann muss ich jetzt all dies untrügliche Gespür tief in mir vergraben, um für den grausamen Fall, dass ich Recht behalten sollte, einfach da sein zu können. Wieviel Liebe erfordert es, jemanden in ein selbstgewähltes Schicksal laufen zu lassen?
Ungebetener Besuch
Der Besuch war nicht geplant und ich hatte nur zwei Tage Zeit, um mich seelisch darauf vorzubereiten und außerdem versuche ich ja mit mäßigem Erfolg, meine Vorurteile abzubauen.
Wir empfangen also einen verurteilten Verbrecher in unserem Haus, samt Kindern und Frau und obwohl ich ihn bereits seit Jahren durch die Verbindung der Kinder „kenne“, habe ich ihn seit seiner Verurteilung nicht mehr gesehen. Ich habe mit mittlerem Interesse die Zeitungsartikel gelesen, als alles aufgeflogen ist, war nicht sehr überrascht, habe mir meinen Teil gedacht und damals auch überlegt, was ich wohl an Stelle seiner Frau tun würde, wenn mir das passieren würde. Wie sie sich entschieden hat, ist klar, denn alle stehen zusammen vor unserem Tor und er ist mir so unsympathisch wie eh und je, daran hat sich nichts geändert, Verbrechen hin oder her.
Absurderweise kann ich mehr Mitgefühl für Affekthandlungen aufbringen, für das systematische Lügen, Erpressen und Bedrohen von Leuten fehlt mir wohl ein Mitgefühl-Gen, keine Ahnung. Über Jahre hinweg in einer bereits von Haus aus privilegierten Situation seine Position auszunutzen, um Beträge in Millionenhöhe zu ergaunern, nein, das kann man nur schwer durch kopflose Entscheidungen schönreden, das ist leider schon Charakter. Und ich glaube, damit hätte ich dann auch meine Entscheidung, wie ich gehandelt hätte, wäre es mein Mann gewesen, aber das habe ich in der Vergangenheit bei anderen Themen auch schon einige Male gedacht und schlussendlich ist es dann immer etwas anderes, wenn man selber in der Situation steckt.
Ich spüre so deutlich wie nie zuvor, dass die Phase meines Lebens, in der ich dachte, dass man für alles und jeden nur genug Verständnis aufbringen müsste, vorbei ist. Ich kann das nicht mehr, ich will das nicht mehr und das Beste: Ich muss das gar nicht.
Natürlich hat jeder Mensch Gründe für sein Handeln, immer.
Aber zur Reifung gehört die Erkenntnis, dass zu diesen Gründen manchmal auch Habgier und andere niedere Charakterzüge gehören
Erstens kommt es anders...
Ich hatte mir etwas anderes vorgestellt. Hatte vorbereitet, in Gedanken durchgespielt, wollte so viel wissen und zuhören und teilhaben und musste dann feststellen, nur ein Punkt zum Abhaken auf einer Liste gewesen zu sein. Die Geschenke liegen eingepackt im Schrank, es gab keinen Moment, keinen richtigen Zeitpunkt, nur zwischen Tür und Angel und der Symbolgehalt dieser beiden Dinge ist zu hoch, um ihn mit Eile zu zerstören. Aber ich habe allmählich die Ahnung, dass ich mich in eine Idee verrannt habe, die keine Entsprechung in der Wirklichkeit hat. Tagträumereien von einem Akt, der vielleicht nur in meinem Kopf von Bedeutung ist. Enttäuschung, auch hier. Die Alarmglocken, die in meinem Kopf klingelten, die Vorzeichen, das flaue Gefühl im Bauch, die Verachtung, gegen die ich micht nicht wehren konnte. Vielleicht erwarte ich einfach generell zu viel von Menschen. Ich werde alt und bitter und fliehe in einen Sarkasmus, der mir so vertraut ist und bin alles, was ich nie werden wollte. Enttäuscht, zynisch, misstrauisch und einsam. Ich muss nicht einmal woanders suchen, denn das, wonach ich mich sehne, das gibt es wohl nicht.
Erwartungen
Ich kann nicht beschreiben, wie enttäuscht ich von einem Menschen bin, von dem ich dachte, er könne mich nicht enttäuschen. Und bei allem reflektierten 'Andere Menschen können dich nicht enttäuschen, weil es nur die eigenen Erwartungen sind, die nicht erfüllt werden', macht sich in mir dennoch eine grenzenlose Leere breit, die mich mutlos zurücklässt.
Allein
Seit über 5 Monaten mit immer mindestens einem weiteren Menschen im Haus bin ich heute zum ersten Mal wieder allein. Und schon um 5 Uhr heute Morgen hüpfte mein Herz aufgeregt, ob es wohl heute alles klappen würde oder ich mich wieder umsonst gefreut hätte. Es ist ein anderes Allein, als wenn der Mann mal kurz die Kinder mit zum Einkaufen nimmt oder sie für eine Stunde beim Arzt sind. Es ist ein echtes Allein, Eines, das nur mir gehört. Kein Geborgtes, kein Geschenktes, kein künstlich Herbeigeführtes, sondern genau jenes, welches ich so dringend benötige, um die Zügel locker zu lassen.
Die Verkrampfungen im Nacken und in den Schultern sind kaum noch zu ertragen, die Aussicht auf den Termin in der nächsten Woche lässt weder Gedanken noch Körper zur Ruhe kommen.
Der Mann und ich haben es uns in den letzten Wochen in einer Blase gemütlich gemacht, die all das ausblendet, was mich nicht schlafen lässt und vielleicht lache ich nächste Woche darüber, weil das so unnötig war. Wenn nicht, kann uns diese Zeit niemand mehr nehmen. Es kommt, wie es kommt.
Der große Sohn hat mich in dieser Zeit viel Langmut gelehrt. Es ist speziell, gerade ihn zu begleiten, sind seine Bedürfnisse und sein Tempo doch so anders als dass mir es jemals vertraut werden würde. Immer einen Schritt vor und dann aus Angst wieder zwei oder mehr Schritte zurück. Warten. Erstarren. Warten. Irgendwann dann wieder ein zaghafter Schritt vor und gleich wieder zurück das Ganze. Bis er lange genug in seinem Kokon gegrübelt und ausgeharrt hat, dieser überraschend über Nacht zu eng wurde und der Sohn sich einem Schmetterling gleich herausschält und seine Flügel ein weiteres Mal ausbreitet. So glücklich mich das macht, so nervenaufreibend ist es, diesem Prozess beizuwohnen.
Mit der damit verbundenen Entspannung kommt das Gefühl wieder an die Oberfläche.
Ich habe Angst vor der Gewissheit.
Ich habe Angst, dass sich nächste Woche unser gesamtes Leben für immer verändert.