Parallelwelten

Beide großen Mädchen wären jetzt mit 17 beide auf dem Gymnasium und mitten in der Abiturvorbereitung. Sie hätten beide einen Führerschein und auch ein eigenes kleines Auto zum Üben bekommen. Sie wären vielleicht weiter zusammengewachsen, sich näher gekommen, vielleicht wäre es die beste Zeit überhaupt geworden. Für sie, für uns, für alle. Vielleicht hätte die Eine wieder mehr Licht sehen können. Und die Andere mehr Frieden gefunden. Aber zusammen wären wir gewesen. Als Familie.

Nach all den Jahren harter Arbeit und Schmerz und Aufopferung und Kampf und Energieverschwendung auf genau diese beiden Kinder.

Manchmal sitze ich träumend auf der Schaukel und tauche ein in diese rosa Welt, wie ich sie mir für die letzten Jahre hier zuhause mit ihnen gewünscht hätte. So viel Hoffnung, dem einen Kind so etwas wie eine Mutter sein zu dürfen und dem anderen ein ebenbürtiger Partner bei der Ablösung, die auch in der Parallelwelt härter für mich gewesen wäre als alles zuvor.

Wie sehr hing ich an diesem Kind. Meinem Kind. Meiner Erstgeborenen. Die andere Erstgeborene wäre dabei an unserer Seite gewesen. Zu dritt.
Rosa Blase.
Seifenblase.
Illusion.

Heute sitze ich auf der Schaukel und mein Leben ist mir fremd geworden. Es nahm einen Verlauf, der niemals vorgesehen war. Der mich bitter gemacht hat. Und mich an Vielem zweifeln ließ, das vorher meine Glaubenssätze darstellte.
Mein Leben passt mir nicht mehr richtig.

Die Trauer hat den Blick über ein Jahr lang getrübt, doch jetzt, wo die Klarheit zurückkehrt, merke ich nur eines mit aller Deutlichkeit: Ich bin falsch hier.

Kati 27.09.2019, 18.00| (2/2) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Gedankenchaos

Schlüsselkind

Ich setzte wie jeden Tag meinen Schulranzen ab und holte den Haustürschlüssel mit der kleinen Kuhglocke heraus. Mein Vater hatte mir diesen Schlüsselanhänger aus der Schweiz mitgebracht und ich liebte das leise Klingeln, wenn man das Glöckchen schüttelte. Ich war stolz, dass ich meinen eigenen Haustürschlüssel zur Einschulung bekommen hatte. Ich schloss auf und keiner war da. Es war nie jemand da. Ich stellte den Ranzen in mein Zimmer und ging in die Küche um zu sehen, was ich mir heute kochen würde. Ich war gerade 5 geworden, früher eingeschult, wie alles, was ich früher machte als alle anderen. Kochen gehörte wohl auch dazu. Nach dem Essen und den Hausaufgaben würde ich zu meinem besten Freund gehen und mit ihm spielen. Er war furchtbar arm, wohnte in einer winzigen Wohnung mit Eltern und Geschwistern und es war überall unordentlich und chaotisch und ... liebevoll. Warm. Dort roch es immer nach gekochten Mahlzeiten und nach Leben. Ich schälte Kartoffeln und überlegte, ob ich mich heute wieder am Backen versuchen würde. Das letzte Mal ging furchtbar schief und ich hatte keine Ahnung warum. Es schmeckte grauenhaft und ich musste alles in den Müll werfen. Ich würde beim nächsten Besuch meiner Großeltern Oma doch noch mal genauer über die Schulter blicken müssen.

Vier Jahre später. Das Gymnasium war ziemlich beängstigend. Sehr groß, ich kannte niemanden, wir waren in den letzten Jahren wieder drei Mal umgezogen. Ich kam mittags nach Hause in das neue riesige Haus, das wir gekauft hatten und keiner war da. Wie immer. Die Mittagsroutine fing an. Essen vorbereiten - meine Mutter arbeitete nun weniger und kam irgendwann gegen 15 Uhr nach Hause, war dann hungrig und wollte etwas essen und danach nur noch schlafen. Mein Vater aß ohnehin bei der Arbeit, dort gab es jeden Mittag gutes und leckeres Essen. Ich war ein paar Mal mit dort, mir meinen zukünftigen Arbeitsplatz ansehen. Er hatte viel mit mir vor. Hausaufgaben machte ich schon lange nicht mehr. Wozu auch. Wenn ich wusste, es würde kontrolliert werden, machte ich morgens noch schnell das Erforderliche. Ansonsten hatte ich frei.
Ich ging in die Wälder, streifte durch Felder und ging den Bach entlang. Ich hatte Zeit. Alle Zeit der Welt.

Oberstufe. Zur Schule ging ich schon lange nicht mehr regelmäßig. Es interessierte ja auch niemanden. Ich lieferte Leistung, wenn es gefordert war und lebte ansonsten mein Leben. Ich verließ zeitgleich mit meiner immer hektischen und beschäftigten Mutter und mit meinem anzugtragenden Vater jeden Morgen das Haus, sein "Sei immmer etwas besser als alle anderen!" im Ohr, und entschied mich meistens erst im Zug, was ich an diesem Tag machen würde. Vielleicht ein wenig Schule, um mich wieder blicken zu lassen? Meine Lieblingsfächer besuchte ich sowieso immer. Die anderen - weniger. Zu Tests und Arbeiten erschien ich und damit hatte sich die Sache. Ich war ja gut. Ich hatte Narrenfreiheit. Vielleicht würde ich ein wenig durch die Stadt bummeln und Geld ausgeben.
Ich brachte meiner Mutter gerne Bildbände von Ländern mit, in die sie noch reisen wollte. Das freute sie, wenn zusätzlich zum Mittagessen noch ein Geschenk dort lag. Ich war früh wieder zuhause. Keiner war da. Wie immer.
Ich versorgte meine Tiere, schrieb, malte, spielte am Computer, sah fern.
Manchmal nahm ich das Fahrrad und fuhr durch die Weinberge. Nur ich und der Fahrtwind in meinem Gesicht.

Einmal blieb ich über Nacht weg. Versteckte mich in meinem Lieblingsversteck auf dem Berg. In den Holunderbüschen. Sie würden nach mir suchen und dann wäre alles wie in den vielen Büchern, die ich gelesen hatte, wenn ein Kind ausriss. Tränenreiche Umarmungen, Aussprachen, Liebesbekundungen. Als ich am nächsten Tag wieder nach Hause kam, schloss ich die Tür auf und keiner war da.

Irgendwann konnte meine Mutter aus Krankheitsgründen ihren Beruf nicht mehr ausüben. Ab da war immer jemand da.
Sie konnte jetzt den ganzen Tag lesen und schlafen und die Putzfrau und die Bügelhilfe und mich herumscheuchen und immer war jemand da, wenn ich das Haus betrat. 

Ich hatte mich noch nie so alleine gefühlt.

Kati 26.09.2019, 12.00| (1/1) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Gedankenchaos

Wissen

Heute ist er wieder da. Ich sehe ihn häufig. Er macht dasselbe wie ich, wenn ich auf dem Supermarktparkplatz stehe. Er sitzt im Auto, spielt am Handy, frühstückt, ruht sich aus. Ein Moment der absoluten Ruhe, wenn draußen das Chaos tobt. Eine Oase, die jeden Tag für einen kurzen Moment verfügbar ist.

Dünn ist er geworden.
Noch dünner.
Eingefallene Wangen, traurige Augen.

Er wird gerade seine drei Kinder in Schule und Kindergarten gebracht haben, so wie jeden Tag. Später wird er zur Arbeit fahren. Wie jeden Tag. Irgendwann nachmittags muss er wieder nach Hause. Die Kinder von der Schwiegermutter abholen, die sich um sie kümmert, wenn Schule und Kindergarten aus sind. Und dann wird zuhause seine Frau auf ihn warten.

Die Depression auch. Die Krankheit. Der Tod seines zweiten Kindes. Ihre psychischen Erkrankungen. Ihre Wut. Ihre Trauer. Ich kenne sie gut und bin froh, dass ich inzwischen keinen Kontakt mehr habe.

Ich habe ihre Tränen gesehen. Und seine Blutergüsse. Ihre unbändige, unkontrollierte Wut. Ein schwarzer destruktiver Strudel aus Dunkelheit und Intensität. Meine Mauern waren zu meinem eigenen Schutz immer ganz oben, wenn ich mit ihr umgehen musste.

Ich warte.
Er sieht mich nicht und blickt sich von Zeit zu Zeit suchend um.
Es vergehen fünf, zehn Minuten.
Und ich warte.
Auf diesen einen Moment, den ich inzwischen schon so oft gesehen habe.

Wenn sein Gesicht sich aufhellt und alle Traurigkeit einem sanften Lächeln weicht, das herzzerreißender nicht sein könnte. Sie öffnet die Beifahrertür und setzt sich neben ihn. Küsst ihn zärtlich auf den Mund. Lange. Streichelt seine Wangen, sein Gesicht. Fährt durch seine Haare. Es ist keine Leidenschaft. 
Nur unendliche Zärtlichkeit und Liebe. Wissen.

Ich gehe einkaufen und als ich wiederkomme und meine Sachen einlade, sitzen sie dort immer noch. Ihr Kopf lehnt an seiner Schulter, während er redet. Sie lächelt. Er auch.

Wie jedes Mal denke ich an meinen Lieblingswunsch: 

"Möge der erste Sonnenstrahl des Tages heute das Auge des traurigsten Menschen treffen, den ich kenne."

Und ich glaube, das tat er.

Kati 24.09.2019, 12.00| (1/1) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Alltag

Ein Jahr Schnuppe

Heute vor einem Jahr war Montag und wir warteten schon seit Tagen sehnsüchtig darauf, ob eine unserer Häsinnen tatsächlich Junge zur Welt bringen würde. Nest war gebaut, Unruhe war da, viel ziegiges Verhalten gegenüber den anderen Häsinnen und eine Zutraulichkeit uns gegenüber, die wir bis dahin nicht kannten.
Und an diesem Morgen ging ich nach draußen, um die Hasen rauszulassen und kontrollierte wie jeden Tag die große Wurfbox, die im Stall stand, und der sich schon seit Tagen kein anderer Hase mehr nähern durfte.

Eine hektische Mama, die mir folgte und mir den Weg in die richtige Ecke zeigte, verriet schon die Neuigkeit: Ein dicker, properer Milchkeks lag da geschützt in haufenweise Wolle gepackt trocken, satt und leise schnaufend im Nest.
Wir hatten ein Hasenbaby.

Heute ist Schnuppe eine ansehnliche junge Hasendame, die ihre eigene kleine Gang anführt. Ihre Best Buddies sind der hektische Frodo und der trottelige dicke Zombit. Als Dreiergespann haben sie den höchsten Scheißelkramfaktor im Gehege. Aber auch mit der Mama und dem Papa unternimmt sie noch viele Ausflüge oder kuschelt sich zwischen die beiden. Ihre Ziehtanten und der dicke Onkel Hasi, der sie mit aufgezogen hat, sind eher ein sicherer Hafen, aber keine Partner. Da sieht man den Altersunterschied sehr deutlich. Mit den Bezugshasen wird gekuschelt oder dort Schutz gesucht, mit den Kumpels unternimmt man Ausflüge oder halbherzige Putschversuche.

Es gibt wohl nichts Schöneres, als ein Tier in einer stabilen Gruppe aufwachsen zu sehen und beobachten zu dürfen, wie es in das soziale Gefüge integriert und von jedem ein wenig miterzogen wird. So soll es sein und so ist es ganz wunderbar.

Kati 17.09.2019, 18.00| (0/0) Kommentare | PL | einsortiert in: tierisch

Der kleine Trottel

Der kleine Eisbär, der mal ein Hund werden will, ist ... nicht die hellste Kerze im Leuchter. Ich weiß nicht genau, was bei ihm schiefgelaufen ist, aber er ist der Inbegriff des liebenswürdigen begriffsstutzigen Trottels. Ich tue das, was man bei Kindern niemals tun sollte: Ich vergleiche die Hunde miteinander. Der kleine Braunbär, der einmal ein Hund werden wollte, war in diesem Alter schon sehr viel agiler, aufmerksamer, lernfreudiger und temperamentvoller. Und größer. Wesentlich. Man sollte meinen, wenn man zwei reinrassige Hunde derselben Rasse vergleicht, sollten es nicht solche Unterschiede geben, aber es gibt sie. Beide Väter stammen aus der Arbeitslinie, sind große stolze Rüden und beide Mütter sind ein traumhaftes Abbild ihres Rassestandards. Trotz gleicher augenfälliger Charaktereigenschaften im Welpenalter ist der Braunbär ein dominanter, selbstbewusster und temperamentvoller Hund mit der Fähigkeit zu eigenständigen Entscheidungen, der auch die kleinste Abweichung vom Protokoll sofort registriert und erst einmal skeptisch beäugt - und der kleine Eisbär ist eher so der pummelige, leicht aufsässige und manchmal auch sehr selbstverliebte Klassentrottel, der einen Einbrecher vermutlich auch dann nicht bemerken würde, wenn dieser ein Schnitzel nach ihm werfen würde.

So oder so. Ich lieb die beiden und bin so dankbar für jeden Tag, den ich mit ihnen verbringe.

Kati 16.09.2019, 18.00| (1/1) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: auf den Hund gekommen

Fallen

Die Dinge, die uns lange Jahre so unverrückbar, unbezwingbar, unantastbar erschienen - sie fallen. Sie zerfallen, zerfasern, lösen sich auf. Und ungläubig staunend sehe ich zu, wie die Dinge sich ordnen. Eins ums Andere.
Lange Zeit konnten wir nur Weichen stellen, ohne jemals die zukünftige Strecke auch nur erahnen zu dürfen.
Wir haben monate- und jahrelang auf etwas zugearbeitet, das wir nicht sehen und kaum greifen konnten.
Jetzt sind wir dort. Und sehen. Begreifen, wofür es sich gelohnt hat.

Die Trauer um die Vorstellung, wie wir es uns als Familie gewünscht hätten, ist allerdings blass geworden.
Wir gehen nun eben einen anderen Weg als wir uns vorgestellt haben.

Und vielleicht ist alles gut so, wie es passiert ist.

Kati 13.09.2019, 18.00| (2/2) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Gedankenchaos

Was trägt

Ich kann gar nicht so viele Worte um diese Sache machen, wie ich möchte.
Es hat sich vor Monaten eine neue Beziehung in mein Leben geschlichen, die paradoxerweise so spektakulär wie selbstverständlich für mich ist. Von einem auf den anderen Tag einfach "da" und seitdem auch nicht mehr wegzudenken. Ich bin kein Mensch, der leicht in persönliche Alltagsbeziehungen einsteigt und noch weniger Einer, der es für nötig oder erstrebenswert hält, Freunde zu haben. Ich bin ja mit den vielen Bekannten hier in meinem Leben schon leicht überfordert, von denen mich viele sicherlich ohne zu zögern als Freundin bezeichnen würden, mit denen ich aber niemals auf diese Fahrt gehen würde. Und nun hat sich nach all den Jahren einfach klammheimlich eine Routine mit einem anderen Menschen in mein Leben geschlichen, die ich um keinen Preis der Welt mehr missen möchte.

Kati 06.09.2019, 12.00| PL | einsortiert in: ziehen - beziehen - erziehen

Flashbacks

Dieser Tage reicht ein Blick auf die Uhr, um vor 17 Jahren festgebrannte Erinnerungen in Echtzeit wiederauferstehen zu lassen. Nicht von ungefähr kommt das Kratzen im Hals, die Kopfschmerzen, die Magenschmerzen, das Unwohlsein. Die Erinnerungen an das Durchlebte, die als absolut erfahrene Einsamkeit, die Schmerzen, die Hilflosigkeit. Selten ist etwas so klar und scharf umrissen wie in diesen ersten Septembertagen.
Dieses Mal wiederholt sich sogar die Wochentagfolge von damals.
Der Montag, der Dienstag, der Mittwoch. 

In 20 Stunden werde ich zweimal bei der Geburt meines ersten Kindes gestorben sein.
In 24 Stunden werde ich vom Chefarzt im Aufwachraum darüber informiert worden sein.
In 26 Stunden werde ich meine seit 6 Stunden laut schreiende Tochter das erste Mal in den Arm genommen haben und dann 18 Monate lang wortwörtlich nicht mehr loslassen.

Und ich kann sie morgen nicht einmal in den Arm nehmen, um ihr und mir zu ihrem Geburtstag zu gratulieren.
Weil sie weg ist.

Kati 03.09.2019, 12.00| (1/1) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Gedankenchaos



Das Tragische an diesem Leben ist nur, dass es auf einer wahren Geschichte beruht.

woanders:







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