Die Erinnerung

Meine allerfrüheste Erinnerung ist die, wie ich mich an einem schweren Vorhang festhalte.
Schwerer Stoff. Braun.
Ich weiß nur, dass diese Erinnerung wahr ist, weil meine Eltern mich ungläubig und entsetzt angestarrt haben, als ich sie über zwei Jahrzehnte später erzählte.

Ich war noch keine zwei Jahre alt. Ich höre nichts. Gar nichts. Es dringt kein Wort in meinen Kopf, obwohl mehrere Erwachsene sprechen. Ich sehe, wie sie ihre Münder bewegen. Ich sehe sie gestikulieren, ich sehe alles. Ich sehe meinen Vater. Sein Gesicht zugeschwollen, die Augen kaum noch zu erkennen, mehrere Platzwunden an der Stirn, das Blut fließt aus seinem Mund.

Die Polizisten sind zu Viert. Meine Mutter ist da, aber ich kann die Erinnerung an sie nicht greifen. Irgendwann verschwinden sie alle. Irgendwann wird es dunkel. Irgendwann verschwimmt das Bild.
Aber es hat sich eingebrannt. Für immer.

Vielleicht war das die Nacht, in der die Wunder starben.

Kati 15.12.2021, 09.00| (0/0) Kommentare | PL | einsortiert in: Gedankenchaos

Mein geliebtes großes Tochterkind.

Ich schreibe dir hier, weil du es so nicht lesen wirst.
Ich habe in den letzten dreineinhalb Jahren unzählige E-Mails, Briefe, WhatsApps geschrieben. Immer auch um den unendlichen Schmerz in meinem Herzen kreisend, den ich einfach nicht unter Kontrolle bekomme. Worte, auf die du nie antworten wolltest. Du hast dich allem entzogen, was deinem ganz persönlichen Neuanfang nicht dienen wollte.
Ich arbeite daran.
Seit Jahren.
Mit Hilfe.
Allein.
Laut.
Stumm.
Er wird nicht kleiner. Der Schmerz verstummt nur in stiller Resignation zwischen den Tagen, an denen er an die Oberfläche taucht und schier nicht auszuhalten ist. So wie heute. Ich habe gestern die letzte Nachricht an dich gelöscht, die ich geschrieben habe. Dort stand zu viel Herz. Zu viel Schmerz. Will dich nicht bremsen, nicht runterziehen. Du hast mit uns schon längst abgeschlossen – wer bin ich also, dich immer daran zu erinnern, dass der farbenprächtig funkelnde Palast deines jungen Lebens auf den Scherben einer ganzen Familie gebaut ist? Dieser Gedanke ist unfair und ich weiß das. Darum belästige ich dich nicht mehr mit mir, mit meinen Gefühlen, mit meinem Schmerz. Es reicht, wenn ich ihn trage. Die Mutter, die du verlassen hast, bin ich längst nicht mehr. Aber wen interessiert das, nicht wahr?

Was tut man, wenn einer fertig mit der Aufarbeitung ist und der andere nicht? Es gibt keine Lösung. Meine einzige Strategie, dies hier nicht in deinen Rucksack zu packen, ist Schweigen. Das packt ein anderes Gewicht in dein Reisegepäck, aber mir scheint es erwünschter. Ich schreie meinen Schmerz schon lange nicht mehr in die Welt, auch wenn der Sturm tobt. Die Trauer. Ich habe dich verloren und nichts, aber auch gar nichts wird dich zurückbringen. Die Zeit hat das ihre getan und inzwischen bist du erwachsen und die Zeit, die wir verloren haben, ist unwiederholbar. Es bleibt nur Akzeptanz.

Es wird das vierte Weihnachten ohne dich.
Irgendwann wird das nicht mehr weh tun.
Irgendwann.

Kati 14.12.2021, 08.00| (4/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Briefe

Dunkel

Im Meer zu ertrinken ist laut.
Es ist dynamisch, es ist Kampf.
Es ist aktiv.
Die Wellen, die dich hochheben, die Brecher, die dich hinunterdrücken. Die Strömung, unbarmherzig, kraftvoll und mitreißend. Das Salzwasser. Alles im Körper ist auf Kampf eingestellt. Jedes Verschlucken treibt dein Adrenalin in die Höhe. Jedes Würgen, jedes Husten pumpt das Blut durch deine Adern. Es ist Überlebenskampf. Es gibt keinen Dialog. Da sind keine Gedanken. Nur das Ringen zwischen Leben und Tod.
Das Meer nimmt sich.

Der See wartet.
Er hat keine Eile.
Kilometerweit vom Ufer entfernt, unter dir nur die Kälte, die darauf wartet, dich in Empfang zu nehmen. Das Wasser ist klar und rein. Es hat nichts Bedrohliches. Es ist still und umfängt dich mit weicher Umarmung. Hier musst du nicht kämpfen, hier ist keine Gewalt, kein Spiel...
Du musst dich nur sinken lassen. Das Pochen deines Herzens wird langsamer, dein Blutstrom pulsiert träge und dumpf durch deinen Körper. Je länger du schwimmst, desto wärmer wird dir. Nicht, weil die Kälte schwindet, sondern weil sie der ewigen Verlockung der Dunkelheit weicht. Bittersüße Gleichgültigkeit streichelt sanft deine Seele. Komm zu mir, flüstert der See leise. Du musst nur loslassen.
Der See wartet.

Kati 13.12.2021, 12.00| (0/0) Kommentare | PL | einsortiert in: Gedankenchaos

Meine Kriegerin.

Deine Tage versinken in Dunkelheit.

Ich sehe dich, ich spüre die Last, die du mit dir trägst, obwohl du sie kaum in Worte fassen kannst.

Das Leben ist nicht mehr schön, es ist nicht mehr lebenswert und die Momente, die wir uns schaffen, tragen dich immer nur kurz.
Ich habe Angst, dich zu verlieren.
Du bist mein Herz, mein Leben, das Salz auf meiner Haut.

Du verkörperst die dunkle Triade wie kein anderer Mensch, den ich kenne.
Manchmal sehe ich mein Spiegelbild so deutlich in dir, dass es mir fast körperlich weh tut.
Ich sehe, dass du kämpfst.
Ich weiß, dass du dich noch gegen die Macht, die damit einhergeht, wehrst.
Und ich kenne den Strudel, der dich erfassen wird, wenn du an den Punkt kommst, dieses Geschenk mit beiden Händen auch ergreifen zu wollen.
Nicht um der Dunkelheit, sondern um des Lichtes Willen, das sich dahinter verbirgt.

Aber um das Licht sehen zu können, muss man sich der Schwärze ganz stellen. Mit allem, was man hat. Mit allem, was man ist. Ganz oder gar nicht. Es ist der Tanz auf dem Vulkan, der auf allen Seiten nur Abgrund kennt.

Aber noch ist es zu groß, zu mächtig, zu angsteinflößend und kaum zu kontrollieren. Deine Hormone fahren Achterbahn, du wirst fast zerrissen zwischen Sehnsucht, Wut, Einsamkeit, Liebe und Hass. Diese Dinge passen nicht gut zueinander für dich und ich würde dir so gerne versichern, dass sie das tun. Aber ich weiß auch, welcher Kampf vor dir liegt. Jeden Tag aufstehen gegen die Versuchung, die in den Schatten liegt.
Du verletzt dich selbst, um all das zu ertragen, um ausharren zu können, um dem alles überwältigenden Drang nicht nachzugeben, anderen Wesen Schmerzen zuzufügen, während du eigentlich nur all deine Wut herausbrüllen und alles vernichten willst.

Du bist größer als das alles.
Du darfst straucheln.
Du darfst fallen.
Und solange du mich lässt, werde ich dir wieder aufhelfen.

Du bist eine Naturgewalt.
Geboren mitten in die Dunkelheit, als nur die Blitze den Kreissaal erhellten, während der Donner im Takt meiner Wehen deine und meine Welt erschütterte.
Kraftvoll, alles verzehrend, einzigartig und ich liebe dich so sehr.

Du bist der Sturm.

Kati 18.10.2021, 12.00| (5/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Briefe

Mein geliebtes Kind.

Herzlichen Glückwunsch zum 15. Geburtstag.

Vor 15 Jahren spürte ich, wie meine Fruchtblase riss.
Du wolltest geboren werden, mit aller Kraft.

Ich rief deinen Vater an, der bei der Arbeit alles stehen und liegen ließ und nach Hause eilte. Während der Wehen schaukelte ich deine beiden Geschwister auf dem Schoß, hielt sie fest, hielt mich an ihnen fest, summte ein Lied nach dem anderen, bis dein Vater da war.

Es war keine Zeit mehr für das Krankenhaus, ich gebar dich in meine eigenen Hände und du warst so winzig und unendlich perfekt.

Meine größte Angst war, dass du in der Kälte würdest sterben müssen, aber dein Herz hörte bereits in der Geborgenheit und Wärme meines Körpers auf zu schlagen.
Das war der letzte Dienst, den ich dir erweisen konnte und für mich der Wichtigste.

Dein Leben im Schutz meines Körpers dauerte nur wenige Monate und du warst geliebt, ersehnt, von ganzem Herzen gewollt.

Du trägst drei Namen, wie alle unsere Kinder.
Auch du teilst dir den dritten Namen mit allen deinen Geschwistern.

Deine Geburtsurkunde in unserem Familienstammbuch zeigt klar und deutlich, dass du da warst.

Du warst da. Und du hast tiefe Spuren in unseren Herzen hinterlassen.

Ich wünschte nur, man hätte uns ein wenig mehr Zeit geschenkt.

Kati 28.09.2021, 06.00| (1/1) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Briefe

Bleibt alles anders

Die Diagnosen kamen unerwartet.

Wenn man sein Kind regelmäßig zu allen Vorsorgeuntersuchungen schleppt und der Arzt aufgrund von Vorerkrankungen kein Fremder ist, dann... ja was eigentlich? Dann erwartet man irgendwie, dass man eine neue Diagnose am Anfang erwischt, oder?
Nicht schon im Stadium: Oh, das ist jetzt kritisch, hier, ihr Behindertenausweis.

So eine Diagnose hat uns vor einigen Wochen erwischt und seitdem steht unsere Welt Kopf.

Vor allem unser Alltag, der seit 18 Monaten ohnehin keiner mehr ist.
Und hier kommt meine Baustelle hinzu: Wut.

18 Monate lang haben wir uns an alle Beschränkungen gehalten.
Wir haben seit 18 Monaten keinen Freund mehr getroffen, keinen Menschen mehr umarmt, nichts. Keiner von uns.
Als Haus, das immer mit Menschen voll war, die hier einfach vorbeikommen, mitessen, mitfeiern, mit uns sind... war das doppelt hart.

Wir haben keinen Geburtstag gefeiert, wir sind nicht rausgegangen, nicht essen, nicht ins Kino, nicht auf Partys, nichts.
Wir haben uns impfen lassen, als es möglich war und tun trotzdem immer noch nichts, um die Ungeimpften zu schützen.

Dann war am Ende der Sommerferien dieser Lichtblick auf Alltag da.
Ein paar Stunden am Tag für mich, die Akkus wiederaufladen, die seit 15 Monaten dunkelrot blinken. Dauerhaft.

Und dann tastet man bei einer Umarmung des Kindes etwas, das da so nicht hingehört und hat eine Woche später eine Diagnose, die den gesamten Alltag umkrempelt.

An diesem Punkt kommt die Wut. Wut ist in diesem Fall eigentlich nur Trauer, in eine Form gegossen, die man aktiv bewältigen kann, statt passiv an ihr zu verzweifeln. Und das macht sie so wichtig.
Weil man weitermacht.
Jeden verdammten Tag.
Jeden weiteren Schritt.

Die stundenlangen Fahrten zu Fachärzten, die Termine jeden Tag, die neuen Diagnosen, die dazukommen, die Aussicht auf monatelange Trennung vom Sohn, der Aufenthalt in der Klinik weit weg... all das ist mit Wut sehr viel besser zu bewältigen als mit Verzweiflung.

Wut hat den Vorteil, dass sie nicht erschöpft, solange sie brennt.
Man darf nur nie aufhören, nie innehalten, nicht ausruhen.

Sonst fällt alles in sich zusammen.

Auch dafür wird es eine Zeit geben.
Aber die ist nicht jetzt.

Kati 16.09.2021, 08.00| (4/1) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Alltag

Stachel

Ich bin es gewohnt, dass die Geschichten aus meinem Leben angezweifelt werden und ich kann Menschen keinen Vorwurf daraus machen.
Die meisten von ihnen können sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, was ich erlebt habe und welche Absurditäten Teil meines ganz normalen Alltags waren oder immer noch sind.

Aber wenn ein Freund, dem man schon länger einen durchaus sehr persönlichen Einblick ins eigene Leben gewährt, und den man unterstützt, wo man kann, andeutet, dass er viele Erzählungen für schlichtweg erfunden hält, dann piekst das einen kurzen Moment so wie früher, als es so wichtig gewesen wäre, dass man mir geglaubt hätte, als ich um Hilfe gerufen habe.

Heute bin ich darauf nicht mehr angewiesen und muss keine Kompromisse mehr eingehen.
Und will es auch nicht mehr.

Wer einen großen Teil meines Alltags anzweifelt, hat darin dann tatsächlich auch nichts mehr zu suchen.

Kati 06.09.2021, 18.00| (1/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Gedankenchaos

Lieber Schwiegervater,

als wir uns das erste Mal trafen, war ich 18 Jahre alt und hatte gerade heimlich deinen 26jährigen Sohn geheiratet. Ich war ein Akt des Aufbegehrens gegen dich, das habe ich später verstanden.
Und was für einer.
Wir fochten von Beginn an auf einer ganz eigenen Ebene. Ich stand für alles, was deine gutbürgerlichen Pläne für deinen Sohn vereiteln würde und das hast du mich deutlich spüren lassen. Einer deiner ersten Sätze zu mir lautete: „Dein Platz ist in der Küche.“. Und ich sagte: „Nein.“ Und du hast mich fassungslos angestarrt. Weil das etwas war, was nicht sein durfte in deiner Welt.
Und ich hielt deinem Blick stand.
Immer.
Trotzig, provozierend, arrogant und voller Leidenschaft.
Jeden deiner Hiebe habe ich pariert und im Laufe der Jahre wich unsere Härte gegeneinander einer leisen Form von gegenseitigem Respekt. Ob wir Augenhöhe erreicht haben, wage ich zu bezweifeln. Aber ich habe mich bemüht.

Als ich deinen Sohn endgültig verließ, standen wir nachts in der Dunkelheit und schwiegen gemeinsam.
Du wandtest dich zu mir um, hieltst die Arme auf und fragtest: „Ein letzter Tanz?“.
Als unsere Körper sich berührten, ahnte ich für einen winzigen Moment, wie sich erwachsene Männlichkeit anfühlen würde. Selbstsicherheit, Führung, Wissen.
Die Luft brannte.
Es war, als würde sich der jahrelange Kampf zwischen uns in diesem einzigen Moment entladen. Wir tanzten auf der schmalen Schneide zwischen unseren Sehnsüchten und unseren Verpflichtungen.
Du warst es, der nach einer gefühlten Ewigkeit zurücktrat und Lebewohl sagte.

Nun geht deine Reise weiter.

Heb mir einen Tanz auf, wenn wir uns wiedersehen.

Kati 01.08.2021, 22.00| (0/0) Kommentare | PL | einsortiert in: Briefe

Du.

Vor 16 Jahren durfte ich das erste Mal die andere Hälfte meiner Seele berühren. Wir sind uns nachts das erste Mal begegnet, Dunkelheit um und den klaren Sternenhimmel über uns.

Vor 14 Jahren haben wir unser Versprechen aneinander auch offiziell gemacht.

Wir haben schon so unendlich viel erlebt.
Schönes.
Unschönes.
Sind miteinander erwachsen geworden.
Es gab Zeiten, in denen ich dich so tief gehasst habe wie ich dich liebte.

Wir haben gute Entscheidungen getroffen und auch schlechte. Jeder für sich, miteinander, manchmal Rücken an Rücken, mal Seite an Seite, aber immer beieinander.

Du kennst meine dunkelsten Geheimnisse.
Den tiefsten Schmerz, meine ungezügelte Wut.
Das Kind in mir genau wie den Wolf, der mir das Überleben erst ermöglicht hat.

Du erträgst den Abstand, den ich brauche. Bietest mir Nähe, ohne sie jemals zu fordern.
Bist stark genug, mir ein echter Gegner zu sein.
Souverän genug, meine Dominanz und meinen Besitzanspruch auszuhalten.
Weich genug, mich zu trösten.

Dein Verstand reibt sich an meinem, dein Körper antwortet nur mir.
Du treibst mich zur Weißglut, zu Wollust, zur Verzweiflung, in den Wahnsinn.
Kennst alle meine Knöpfe und drückst sie trotzdem nur, wenn ich das erlaube.

Du bist mein dunkler Engel.
Mein Wächter auf der Mauer.
Der Einzige, der auf beide Seiten sehen darf. 

Ich liebe dich.

Kati 30.05.2021, 18.00| (1/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Briefe

Lieber Opa,

herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.

94 Jahre würdest du heute alt werden.

Der Kirschbaum hat wie immer an deinem Geburtstag die ersten Blütenknospen, um an deinem Todestag in 16 Tagen in voller Blüte zu stehen.

Ich vermisse dich. Immer noch. Ich weiß nicht, ob das jemals besser wird.
Niemand, der geliebt wird, ist wirklich tot. Und du wirst geliebt. Du bist lebendig. In meiner Erinnerung, in meinen Erzählungen, in dem, was ich den Kindern weitergebe. Und doch vermisse ich dich so sehr.

Vor zwei Jahren trat ein weiterer Hund in mein Leben, der Trottelige, du weißt schon. Ich wünschte, du hättest ihn noch erleben können. Du hast Hunde so verehrt, auch wenn du dir nie einen erlaubt hast.
In dem Moment, in dem ich gesehen habe, an welchem Tag er geboren wurde, wusste ich, dass er für mich ist.
Und er erinnert mich jeden einzelnen Tag so sehr an das, was du mir vermittelt hast. Dass das Leben nicht planbar ist. Nicht berechenbar. Dass man es nehmen muss, wie es kommt. Dass man Feste feiert, wie sie fallen. Dass Spaß ein Grund ist, etwas zu tun. Dass Liebe nichts mit Leistung zu tun hat. Das. Vor allem das ist etwas, das ich nur durch dich gelernt habe.

Ich wäre nicht der Mensch, der ich sein wollte, wenn es dich in meinem Leben nicht gegeben hätte.
Du warst so unperfekt, so fehlerhaft, so menschlich.
Und du hast mich geliebt. Unendlich. So wie ich dich geliebt habe. Das war lange Jahrzehnte die einzige Sicherheit, die es in meinem Leben gab.

Wenn ich aus meiner Kindheit und Jugend irgendetwas benennen sollte, das den entscheidenden Unterschied gemacht hat, dass ich nicht zu dem irren Psychopathen wurde, zu dem ich gemacht werden sollte, dann würde ich deinen Namen sagen.
Du warst meine Insel.
Die Burg in meinem Inneren, in der mein Kind Zuflucht fand.

Ich liebe dich.

Kati 03.04.2021, 16.00| (1/0) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Briefe

Totengräber. Eine Liebeserklärung an den Tod.

Ich habe in meinem Leben schon so viele Tiergräber ausgehoben.
So unendlich viele. 
Ich habe beim Schaufeln versucht, die Tiere zu zählen, die mich in meinem Leben bis zu ihrem Tod begleitet haben. Es sind weit über 50 Namen geworden und einige mehr fallen mir immer noch ein. 

Als ich klein war, bin ich den letzten Gang mit ihnen immer alleine gegangen. 

Ich erinnere mich an die schrecklichste Nacht, als ich abends – mit Gipsschienen seit Wochen an beiden Armen – entdeckte, dass mein Kaninchen tot war.
Es fror seit Tagen, der Boden war steinhart.
Meine Eltern boten mir als Alternative wie immer den Müll an.
Ich trug dieses steife Tier im Arm, konnte es nicht richtig greifen, nicht halten, nicht mehr kuscheln, weil der Gips jede Umarmung unmöglich machte.
Es war dunkel. Ich holte mir den Spaten, konnte ihn nicht umfassen, weinte, allein in der Dunkelheit und Kälte. Mit der Spitzhacke habe ich unbeholfen ein wenig Erde abhacken können, nicht genug für ein Grab. Ich setzte mich irgendwann mit meinem toten Tier verzweifelt auf den Boden und heulte. Ich konnte nicht mehr. Und ich konnte dieses Tier nicht einfach wegwerfen.

Durch das gigantische Panoramafenster konnte ich meine Eltern im Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzen sehen. Unbekümmert. Lachend.

Bei allem, was ich bis dorthin bereits erlebt hatte, hatte ich mich noch nie so allein gefühlt. 

Irgendwann kam die Wut. Heiß. Lodernd. Alles verzehrend. Ich schlug mir die Gipsschienen an den Steinen auf und riss sie mir von den schwachen Handgelenken. Alles in mir brannte vor Hass. Ich griff zum Werkzeug und arbeitete mich Zentimeter für Zentimeter durch den gefrorenen Boden. Ich spürte weder Schmerz noch Tränen noch Kälte. Nichts mehr. Das Verlangen nach einem würdevollen Abschied, nach einem Grab, nach dem letzten Gang gemeinsam mit meinem Tier war so stark, dass ich mich völlig verausgabte.
Irgendwann kauerte ich mich mit ihr auf den Boden und wiegte uns summend hin und her, bevor ich sie in ihre letzte Ruhestätte bettete.

Was ich mir in diesen Stunden schwor, brannte lange in mir.
Die Zeit hat das flammende Inferno aus Hass in ein helles Leuchten verwandelt, wie ich dem Tod begegnen will.
Nicht in Kälte, nicht in Dunkelheit, nicht allein. 

Ich denke an meinen Großvater, zu dem ich mich in den Sarg gekuschelt habe, während mein Sohn fröhlich Gummibärchen mampfte. Die Küsse, die ich auf seiner Stirn verteilt habe, so wie er das in meiner Kindheit bei mir getan hatte. An seine Beerdigung, auf der ich seine Urne getragen habe. An meine drei ganz in weiß gekleideten Kinder, die im Sonnenschein über die Friedhofswiese getanzt sind.

Ich denke an meine Großmutter, die wir hier nach Hause geholt haben. An den sonnig-windigen Augusttag, als sie das letzte mal ausatmete, während ich ihre Hand hielt. Als mein Kind sagte, wir müssen die Fenster weit aufmachen, damit ihre Seele fliegen kann. Als wir sie als Familie alle gemeinsam gewaschen und angezogen haben, damit sie vom Bestatter abgeholt werden kann. An das Lachen, an das Winken hinter dem Leichenwagen her, an das Lebewohl. 

Ich denke an meinen ersten Hund, den wir im Sterbeprozess jeden Tag auf eine Wiese getragen haben, wo wir einfach nur saßen und warteten, dass er bereit war zu gehen. An den Tag, an dem der Mann ihn auf seine Arme nahm und er ein allerletztes Mal seine Nase hoch in den Wind reckte, als wolle er den ganzen Himmel einatmen, bevor er dann im Arm des Mannes gestorben ist. 

Ich denke an meine Tochter, die die Ärzte im Krankenhaus „entsorgen“ wollten. Wie ich mich zum Mann umwandte und mit fester Stimme sagte: „Wir gehen jetzt.“ Wie ich einen Tag später, mit Nachwehen und gerade von einem toten Kind entbunden, mit einem Säugling vor der Brust und dem Mann an der Hand zu unserem Fluss ging, zu unserer Insel, und unser Baby mit Blumen und einem letzten Schlaflied der Erde zurückgegeben habe. 

Ich denke an unzählige Tiergräber, vor denen wir mit unseren Kindern standen. An Blumen, an Sonnenschein, an Tränen und Lachen, an Kuscheln mit toten Tieren und Umarmungen, die so weh und so gut tun.
An Grabsteine, selbst beschriftet und bemalt, an Kerzen, an selbstgebastelte Holzkreuze. 

Morgen gehen wir diesen Weg wieder. Ich begleite den dicken Hasenbären auf dem letzten Weg, er darf auf meinem Arm in einer Decke einschlafen und dann nehme ich ihn wieder mit nach Hause. Das Grab haben wir heute alle gemeinsam ausgehoben, wir haben uns drumherum gesetzt, erzählt, gelacht, gegessen, die Sonne genossen. Morgen werden wir ihn auf Blumen betten und gemeinsam von ihm Abschied nehmen. 

Und wir werden weinen. Gemeinsam.

Kati 24.03.2021, 16.00| (1/1) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Vom Leben und Sterben

Parallelwelten

In meiner Freizeit spiele ich ein MMORPG, dem mein ganzes Herz gehört - seit nunmehr über 12 Jahren.

Angefangen alleine, dann mit dem Mann gespielt, dann eine Gilde gegründet.
Mit Internetzmenschen.
Bis es irgendwann eskaliert ist, ich von einem auf den anderen Tag den Account gelöscht und einen Neuen erstellt habe, auf dem mich niemand findet.
Viele Jahre vergingen und zumindest ich hütete dieses Geheimnis meiner Zufluchtswelt, in der alles bunt ist, auch wenn meine Welt in Dunkelheit versinkt.
Jahre, in denen ich ausschließlich alleine oder mal mit dem Mann spielte. Gruppen nur mit fremden Spielern bildete, die ich nie wiedersehen würde.
Dann kam eine sehr lange Verletzungspause, in der ich so gut wie gar nicht spielen konnte, weil mein Körper streikte.

Seit einigen Monaten ist alles anders.
Da sind wunderbar liebenswerte Menschen aus Blogs und aus Twitter und aus meiner Vergangenheit, die sich alle bei uns versammelt haben, um mit uns zu spielen.
Irgendwie hat das sehr schnell Fahrt aufgenommen und setzt sich erst langsam.
Und was ich merke: Ich stehe vor demselben Problem wie schon vor 9 Jahren. Menschen.
Vor 9 Jahren wurde ich - wannimmer ich im Spiel eingeloggt war - angeflüstert, ob ich denn gar keinen Haushalt zu erledigen hätte, wer sich denn um meine Kinder kümmern würde, ob mein Mann wüsste, wie viel ich spiele... ein absolut übergriffiges Verhalten.
Am Abend war ich dann wieder gut genug dafür, Menschen durch Instanzen zu ziehen, ihnen Taschen oder sonstiges zu schenken oder andere Dinge zu tun, während gleichzeitig versucht wurde, hinter meinem Rücken meinen Mann anzugraben und vornerum unschuldig zu tun. Seitenhiebe inklusive.

Das staute sich über Monate hinweg in mir, bis ich dann an einem Tag einfach implodiert bin, alle Spieler aus der Gilde geworfen, einen kurzen Abschiedsbrief verfasst habe, weg war und nie wieder darüber geredet habe. Das hat leider auch die getroffen, die gar nicht so waren. Aber ich konnte einfach nicht mehr.

In der darauffolgenden Zeit musste ich erst wieder lernen, das Spiel zu lieben, das mir so viel bedeutet. Erst als der Stress wegfiel, merkte ich, wie sehr mich der Umgang mit diesen Menschen aufgerieben hat.
Heute ist vieles anders.
Ich bin nicht mehr dieselbe wie vor 9 Jahren.
Ich bin eine Andere.
Und ich kann anders auf diese Dinge reagieren, mit denen ich konfrontiert werde.

Ich spiele, wann und wieviel ich will.
Mein Leben, meine Regeln.
Ich spiele einen Großteil dieses Spiels als Wirtschaftssimulation und bin entsprechend lange auch einfach nur online, um nebenher von Zeit zu Zeit mal ins Auktionshaus zu sehen. Ich muss niemandem darüber Rechenschaft ablegen.
Ich arbeite im Spiel für mein Gold. Ich bin niemandem etwas schuldig. Kein Gold, keine Gegenstände, nichts.
Wer Geschenke erwartet oder neidisch darauf ist, wenn ich jemand anderem etwas schenke, der hat selber ein gewaltiges Problem.
Ich entscheide, für wen ich mein Gold ausgebe, mit wem ich meine Freizeit verbringe, für wen ich etwas tue. 

Ein besonderer Punkt: Freizeit. Es ist meine Freizeit. Auch wenn viele Menschen es nicht glauben oder mir gerne unter die Nase reiben, dass sie im Gegensatz zu mir ja ach so früh aufstehen und arbeiten müssten, es ist meine Freizeit und davon habe ich nicht allzu viel.
Wenn ich im Spiel eingeloggt bin, bin ich darum nicht einfach verfügbar.
Ich möchte genauso gefragt werden wie jeder andere auch.
Wenn ich etwas tue, fühle ich mich nicht verpflichtet, alle Spieler, die online sind, mitzunehmen. Ich bin kein Reiseunternehmen. Ich spiele gerne mit anderen zusammen, aber ich muss mir deswegen weder Seitenhiebe noch blöde Bemerkungen noch passiv aggressive Vorwürfe anhören, wenn sich jemand ausgegrenzt fühlt, nur weil ihm nicht der Hintern hinterhergetragen wird. 

Wir sind alle erwachsen, jeder ist für seinen Spaß selbst verantwortlich.

Jeder spielt anders.
Ich spiele gerne nach dem Leistungsprinzip.
Ich mag auch chillige Runs und wipen ist nicht mein Problem, wenn der Rahmen klar ist.

Wenn ich aber auf der einen Seite nach jedem Kampf gerne warte, bis jeder sein Spielzeug ausgepackt, sein Tier gewechselt, drei Screenshots gemacht und seine Ausrüstung andersrum angezogen hat, dann erwarte ich auf der anderen Seite auch, dass akzeptiert wird, dass ich durchaus abschätzen kann, dass Menschen, die sich weder um Bufffood, Stärkungszauber, Fläschchen Spielmechaniken, Bosstaktiken und Co. kümmern und Instanzen nur als netten Ausflug einer vor sich hinstolpernden Ansammlung von Gelegenheitsspielern betrachten, im Endcontent nichts zu suchen haben, ich ihn aber trotzdem spielen möchte.
Nur dann eben ohne sie.
Die Vorwürfe dazu kann jeder dort stecken lassen, wo sie hingehören.

Es ist wie im wahren Leben: Wer immer nur alles geschenkt bekommen will, ohne auch nur ansatzweise etwas dafür zu tun, der wird unweigerlich enttäuscht werden.

Ich liebe meine Mitspieler und ich schätze ihre Unterschiedlichkeit und auch ihre Andersartigkeit, wenngleich ich viele Verhaltensweisen und Befindlichkeiten auch nicht nachvollziehen kann.
Aber das muss ich ja auch gar nicht.

Respekt reicht in den allermeisten Fällen völlig aus.

Am dicken Fell werde ich auch weiterhin arbeiten, denn es ist mein Spiel und es ist meine geliebte bunte Welt.
Die lasse ich mir kein zweites Mal kaputt machen.

Kati 19.01.2021, 15.00| (2/1) Kommentare (RSS) | PL | einsortiert in: Azeroth



Das Tragische an diesem Leben ist nur, dass es auf einer wahren Geschichte beruht.

woanders:







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Do what is right. Not what is easy.
you want. It doesn't matter anyway.